Indigosommer
mir Fragen, jetzt, wo meine Gedanken wieder klar waren. Wohin war Conrad gegangen, nach der Prügelei mit Josh? War er nach Hause gegangen oder uns bis zum Camp gefolgt? Ich erinnerte mich an das komische Gefühl von Anwesenheit, das ich gehabt hatte, bevor ich das Feuer verlassen hatte und zu Bett gegangen war. Als ob jemand im Dunkel gestanden und uns beobachtet hätte.
Die Schrammen auf Joshs Stirn und seinem Kinn, die stammten nicht von der Prügelei zwischen ihm und Conrad. Oder doch? Waren die beiden in der letzten Nacht noch einmal aneinandergeraten? Und was hatte Brandee gesehen, das sie so verängstigte?
»Kommt morgen Vormittag um zehn zu mir aufs Polizeirevier«, sagte Chief Howe schließlich, »dann weiß ich vielleicht schon etwas mehr.«
»Wohin bringen Sie Brandee?«
»In unser Krankenhaus in La Push. Ihr könnt sie besuchen, aber ich weiß nicht, wann sie wieder ansprechbar sein wird. Versucht es einfach. Es ist wichtig, dass sie vertraute Gesichter sieht.«
Vertraute Gesichter? Mir war es so vorgekommen, als hätte Brandee böse Geister gesehen und keine vertrauten Gesichter. Ich schämte mich, weil ich Chief Howe nicht erzählt hatte, was ich am Supermarkt mit angehört hatte. Doch so lange ich nicht wusste, welche Rolle Conrad in diesem Drama spielte, sagte ich am besten gar nichts.
Wir hockten auf den Stämmen um die Feuerstelle. Laura weinte leise, sie konnte nicht damit aufhören. Ihre Augen waren gerötet und verquollen. Alec, the man with the plan, schien nicht zu wissen, ob er wütend oder verzweifelt sein sollte. In seiner Unentschiedenheit wirkte er schrecklich verloren. Mark ließ seine Fingerknöchel knacken, doch niemand regte sich da rüber auf. Janice saß gedankenversunken neben ihm und stocherte mit einem Stock in der kalten Asche.
Und ich? Meine Gliedmaßen schienen immer noch wie gelähmt. Ich fühlte mich leer und unendlich allein in Gegenwart der anderen. In meinem Kopf, da schrien die Fragen und verursachten mir Kopfweh. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, wie ich unbemerkt zu Conrad gelangen konnte. Ich musste wissen, was passiert war. Das machte Josh zwar auch nicht wieder lebendig, aber da war die große Hoffnung, dass ich vielleicht einen Weg finden konnte, mit dieser Katastrophe umzugehen, wenn sich herausstellen sollte, dass Conrad nichts damit zu tun hatte.
Im Augenblick war ich mir sicher, dass ich nie wieder froh werden würde, und den anderen ging es bestimmt genauso. Die Clique überlegte, ob sie ihre Eltern anrufen sollten oder nicht. Schließlich entschieden sie sich dagegen. Zuerst wollten sie ins Krankenhaus fahren und mit Brandee reden, falls die ansprechbar war. Wir alle hofften inständig, dass sie uns erzählen konnte, was in der vergangenen Nacht passiert war.
»Ob sie weiß, dass er tot ist?«, fragte Laura und wischte sich mit einem Taschentuch die Augen.
Janice sagte: »Im Zelt hat sie nur wirres Zeug geredet. Von einem Werwolf, der sie verfolgt hat, und von blauen Felsen und rosa Bäumen.«
»Mann, oh Mann.« Mark schüttelte den Kopf. »Werwölfe und rosa Bäume.«
Wir sahen einander an und dachten wohl alle dasselbe: Würde Josh unter uns sitzen, hätte er jetzt einen seiner blöden Späße gemacht. Seine Abwesenheit war beinahe greifbar und in diesem Augenblick schien es uns allen erst so richtig klar zu werden: Josh war tot. Er würde nie wieder Witze reißen, nie wieder auf einem Surfbrett stehen und nie wieder mit uns am Feuer sitzen.
23. Kapitel
B randee lag in einem Einzelzimmer. In ihrem weißen Krankenhausbett sah sie wie ein verschrecktes Kind aus. Ihre braune Haut wirkte grau, die Schatten unter den Augen schimmerten bläulich und ihr ohnehin schon schmales Gesicht sah eingefallen aus. Tränen rannen aus ihren geröteten Augen, jegliches Licht war daraus verschwunden. Die schwarzen Haare, jetzt stumpf und strähnig, klebten an ihren Schläfen. Sie sah richtig hässlich aus. Trotzdem hatte ich das Gefühl, Brandee zum ersten Mal so zu sehen, wie sie wirklich war. Ohne Fassade, ohne Lügengeschichten.
»Hi Schatz«, sagte Alec, beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wir sind gekommen, um zu sehen, wie es dir geht.«
Brandee drehte sich zur Wand und rollte sich zusammen. Sie schluchzte, ihre Schultern zuckten. Alec setzte sich zu ihr aufs Bett und tätschelte ihren Rücken. »Baby, das wird schon wieder.«
Hohle Worte, dachte ich. Nichts wird wieder. Josh ist tot.
Alec zog Brandee sanft an der
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