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In Nomine Mortis

In Nomine Mortis

Titel: In Nomine Mortis
Autoren: Cay Rademacher
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wichtigsten Regeln eines jeden Mönches: stabilitas loci — ich würde im Kloster
     bleiben; conversatio morum — mein Lebenswandel würde stets sittlich sein; und, mehr als
     alles andere, oboedientia — ich versprach Gehorsam. Nicht in den schlimmsten Träumen hätte
     ich zu jener Zeit daran gedacht, auch nur eine dieser Regeln zu brechen.
     So wuchs ich heran, zusammen mit zwei Dutzend jungen Mönchen. Schon
     früh strebte ich nach den Früchten des Geistes. Ich lernte in
     der Klosterschule die Sieben Freien Künste und der HERR ließ
     mich Wissen einsaugen, wie der nach einem langen, dürren Sommer
     ausgetrocknete Erdboden den ersten Herbstregen aufnimmt. Die anderen Mönche
     spotteten immer seltener über mich - oder zumindest lästerten
     sie nur noch heimlich meiner und nicht mehr offen, je weiter unser curriculum voranschritt. Meine Mitbrüder
     liebten mich nicht, der ich ihnen im Unterrricht in allem voraus war, doch
     brachten sie mir nun wenigstens Respekt entgegen. Und manchmal meinte ich
     gar schon damals, ein anderes Gefühl zu spüren, wenn sie mich,
     vermeintlich unbeobachtet, aus den Augenwinkeln betrachteten. Angst.
    Arithmetik und Astronomie,
     Geometrie und Musik fielen mir leicht, doch verwendete ich nicht mehr Zeit
     und Mühsal des Gedankens darauf als notwendig. Doch wie sehr liebte
     ich Grammatik, Rhetorik und, besonders, Dialektik: questio, disputatio, conclusio, Frage, Streitgespräch, Lösung.
     Die Logik offenbart uns GOTTES Gesetz: klar und schön und
     unerbittlich. Sie hilft uns, auch aus größter Verwirrung und
     Verdunkelung des Geistes zurückzufinden ans Licht der Erkenntnis.
     Falschheit und Trug zerreißt sie, wie ein erfahrener Tuchhändler,
     der ein minderwertiges Vlies mit verächtlicher Geste zerfetzt. Ich
     lebte hinter Klostermauern - und doch tat sich mir eine Welt auf,
     unendlich viel weiter als die Welt der Ritter, ja selbst als die Welt der
     Kaufleute. Mochte Messer Marco Polo aus Venedig auch bis nach Cathay
     gelangt sein und bis Cipango am Weltenrand, die Grenzen meiner Welt waren
     noch viel weiter gesteckt.
    Im Armarium, der Bibliothek,
     studierte ich die Heilige Schrift. Gierig fraßen meine Augen auch
     die Seiten anderer sakraler Schriften: Sakramentar, Antifonar, Missale -
     ich las alles. Dann wagte ich mich an Augustinus. Anschließend
     studierte ich Albertus Magnus und den unvergleichlichen Thomas, die beiden
     Leuchten der Christenheit und Zierden des Ordens, dessen Tracht ich selbst
     nun mit jedem Tag um ein weniges stolzer trug. Lehrte Albertus Magnus
     nicht auch in Köln? Er und Thomas waren mir auch die Führer, die
     meinen Geist an die Hand nahmen zu den Weisen alter Zeit, welche die
     Gesetze des Kosmos ergründeten, welche man jedoch nur mit Vorsicht
     studieren durfte, da sie ja Heiden waren: Aristoteles und Platon zeigten
     mir, wie ich zu denken hatte.
    Als ich dann auch noch die
     fast tausend Jahre alte »Etymologiae« des Isidor von Sevilla
     gelesen, ja beinahe auswendig gelernt hatte, da glaubte ich, nun alles zu
     wissen, was es in dieser Welt zu wissen gab. Oft schlich ich mich nach den
     Vigilien, wenn die Mitbrüder müde zurück zu ihren harten
     Pritschen schwankten, in die Bibliothek, entzündete einen
     Kerzenstumpen und beugte mich über die schweren Folianten, die so
     herrlich nach Pergament und Leder und Weisheit dufteten.
    Meine Oberen sahen das wohl,
     gaben mir anfangs milde Strafen, doch ließen mich später gewähren.
     Sind nicht wir Dominikaner in der ganzen Christenheit berühmt für
     unsere Gelehrsamkeit? Mich dürstete nach Wissen - und der HERR gab
     mir einen Prior, der meinen Durst gnädig stillte.
    Eines Tages hatte er mich in
     seine Zelle befohlen.
    »Bruder Ranulf«,
     hatte er gesagt, »ich sehe wohl, dass du nach der vollkommenen
     Erkenntnis strebst. Es gibt tausend Wege zu GOTT, doch für dich kann
     es nur einen geben: den, der über Paris führt.« Und so
     hatte er mich, kaum dass ich meinen Magister in den Sieben Freien Künsten
     erworben hatte, zum Studium der Theologie entsandt an den Ort, der allein
     der Lehre der höchsten Wissenschaft von allen würdig war: Paris,
     die größte Stadt der Christenheit. Ich weiß wohl, dass
     unsere gelehrtesten Kartografen Jerusalem für den Mittelpunkt der
     Weltenscheibe ausgeben. Doch für mich, der HERR möge mir meine
     Vermessenheit vergeben, lag das Zentrum der Welt an der Seine. Dort erhob
     sich die berühmteste Universität des
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