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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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das denn nicht?«
    Dreimal hatte Inger Johanne ihn schon gebeten, nicht so schnell zu fahren. Yngvar hatte jedesmal damit geantwortet, sein Tempo noch weiter zu steigern. Beim letzten Mal hatte er das magnetische Blaulicht aufs Dach gesetzt, durch das Fenster, bei hoher Geschwindigkeit in einer Kurve. Inger Johanne schloß die Augen und hoffte das Beste.
    Sie hatten kaum ein Wort gewechselt, seit er ihr gesagt hatte, wohin sie unterwegs waren und warum. Seit über einer Stunde fuhren sie schon schweigend dahin. Sie hatten es jetzt sicher nicht mehr weit. Inger Johanne sah eine Tankstelle, wo ein dicklicher Mann mit knallroten Haaren einen Stapel Brennholz mit einer Plane bedeckte. Er hob die Hand zu einem automatischen Gruß, als sie um die Kurve bretterten.
    »Wo zum Teufel war diese Abfahrt?«
    Yngvar schrie fast und trat auf die Bremse, als er den kleinen, nicht ausgeschilderten Weg entdeckte, der den Hang hochführte.
    »Zuerst nach rechts, dann zweimal links«, erinnerte er sich und wiederholte: »Rechts, zwei links. Rechts, zwei links.«
    Snaubu war wunderschön auf einer Bergkuppe gelegen, mit Blick über das Tal, sonnig und doch total ungestört. Aus der Entfernung sah das Haus heruntergekommen aus. Als sie näher kamen, stellte Inger Johanne fest, daß eine Wand frisch getäfelt und neu angestrichen war. Eine unvollendete Grundmauer sollte vielleicht irgendwann eine Garage werden. Oder ein Vorratshaus. Als der Wagen anhielt, hörte sie ihren Puls gegen ihr Trommelfell hämmern. Hier oben in den Bergen wehte noch immer ein scharfer Wind, und sie keuchte auf, als sie ausstieg.
    »Glaubst du wirklich, daß sie hier ist«, fragte sie fröstelnd.
    »Das glaube ich nicht«, sagte Yngvar und lief auf das Haus zu. »Das weiß ich.«
    Aksel Seier saß auf der Kante eines Stahlrohrsessels, die Hände in den Schoß gelegt.
    Karsten Åsli war bewußtlos. Seine inneren Blutungen waren zum Stillstand gebracht worden. Ein Arzt hatte Aksel erklärt, daß mehrere Operationen nötig sein würden, daß sie aber warten müßten, bis der Zustand des Patienten sich weiter stabilisiert hatte. In den Augen des Arztes hatte Aksel lesen können, daß kaum Hoffnung bestand.
    Karsten würde sterben.
    Das Beatmungsgerät seufzte tief und mechanisch. Aksel konzentrierte sich darauf, nicht im selben Takt zu atmen wie dieser riesige Blasebalg; ihm wurde dabei schwindlig.
    Karsten hatte Ähnlichkeit mit Eva. Sogar mit Schläuchen in der Nase, Schläuchen im Mund, Schläuchen überall und einem Verband um den Kopf; das sah Aksel deutlich. Dieselben Züge, der große Mund und die Augen, die unter den zerfetzten geschwollenen Lidern sicher blau waren. Aksel fuhr mit dem Zeigefinger über die Hand seines Sohnes. Die war eiskalt.
    »Ich bin’s«, flüsterte er. » Your dad is here.«
    Ein Zucken durchfuhr Karstens Körper. Dann lag er wieder ganz still da, in einem Zimmer, in dem eine zischende Lungenmaschine und ein Herzmonitor, der über Aksels Kopf piepste und rot blinkte, die einzigen Geräusche lieferten.
    »Sie ist nicht hier. Das müssen wir einfach einsehen.«
    Inger Johanne versuchte, die Hand auf seinen Unterarm zu legen. Yngvar riß sich los und lief zur Kellertreppe. Sie waren schon dreimal unten gewesen. Dort und oben auf dem Spitzboden. Jeden Schrank und jeden Winkel in diesem Haus hatten sie durchsucht. Yngvar hatte ein Doppelbett auseinandergenommen, um alle Hohlräume zu untersuchen. Er hatte die Küchenschränke durchsucht und sogar die Spülmaschine mehrere Male aufgerissen.
    »Noch einmal«, bat er verzweifelt und rannte die Kellertreppe hinunter, ohne auf Antwort zu warten.
    Inger Johanne blieb im Wohnzimmer stehen. Yngvar hatte einen Einbruch begangen. Sie beide hatten einen Einbruch begangen, ohne gesetzliche Handhabe, im Haus eines anderen. Notrecht, hatte er gemurmelt, als er endlich die Haustür geöffnet hatte. Unsinn, hatte sie geantwortet und war ihm dann gefolgt. Aber Emilie war nicht im Haus. Jetzt, wo Inger Johanne endlich Zeit zum Nachdenken hatte, ging ihr auf, daß das Ganze Irrsinn war. Yngvar fühlte etwas. Er fühlte, daß Emilie irgendwo auf dieser Kätnerstelle gefangengehalten wurde, von einem Mann ohne Vorstrafen, den nichts mit diesem Verbrechen in Verbindung brachte außer einer zufälligen Bekanntschaft mit zwei der Angehörigen.
    Das fühlte Yngvar, und auf dieser Grundlage stand sie jetzt als ungebetener Gast in einem fremden und unfreundlichen Wohnzimmer in einem kleinen Haus in den Bergen, weit
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