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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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von anderen Menschen entfernt.
    »Inger Johanne!«
    Sie wollte nicht noch einmal nach unten. Der Keller war muffig und verstaubt. Sie hatte bereits Atemprobleme und hustete.
    »Ja«, rief sie zurück, ohne sich der Kellertreppe zu nähern. »Was ist denn?«
    »Komm her! Kannst du das hören?«
    »Was denn«, murmelte sie irritiert.
    »Komm her!«
    Widerwillig stieg sie die steile Treppe hinab. Er hatte recht. Wenn beide ganz still mitten auf dem groben Betonboden standen, konnten sie ein leises Rauschen wahrnehmen. Ein mechanisches Geräusch, regelmäßig und leise.
    »Fast wie mein Computer«, flüsterte Inger Johanne.
    »Oder wie … eine Lüftungsanlage. Es könnte ein …«
    Yngvar klopfte bereits die Wand ab. An mehreren Stellen rieselte Putz zu Boden. Ein großer offener Garderobenschrank stand an der Querwand, die, wie Inger Johanne meinte, sich auf der Ostseite des Hauses befand. Yngvar versuchte dahinterzuschauen. Er ging in die Hocke und musterte den Boden.
    »Hilf mir«, sagte er und versuchte, das große Möbelstück wegzurücken. »Auf dem Boden sind Kratzer zu sehen. Der Schrank ist schon mehrmals verschoben worden.«
    Er brauchte ihre Hilfe nicht. Der Schrank ließ sich leicht von der Wand rücken. Dahinter verbarg sich eine kleine Klappe, die Yngvar bis über die Hüfte reichte, sie war offenbar neu, mit blanken Scharnieren, ohne Schloß. Er öffnete sie. Hinter der Klappe führte ein schmaler Gang schräg nach unten und war kaum hoch genug für einen erwachsenen Mann. Yngvar kroch auf allen vieren, Inger Johanne folgte ihm mit eingezogenem Kopf. Zwei oder drei Meter tiefer öffnete sich ein kleiner Raum, in dem beide stehen konnten. Dieser Raum hatte Betonwände und eine grelle Leuchtröhre an der Decke. Sie schwiegen beide. Das Rauschen der Lüftungsanlage war hier deutlicher zu hören. Beide starrten eine Tür in der Wand an; eine schwere, blanke Stahltür. Yngvar fischte ein Taschentuch aus der Jackentasche und legte es vorsichtig über die Klinke. Dann öffnete er langsam. Die Angeln waren gut geölt und lautlos.
    Der Gestank eines schmutzigen Menschen erregte in Inger Johanne heftigen Brechreiz.
    Auch hinter der Tür brannte grelles Licht. Das Zimmer war vielleicht zehn Quadratmeter groß, und es enthielt ein Waschbecken, eine Toilette und ein schmales Bett aus Kiefernholz.
    Im Bett lag ein Kind. Das Kind war nackt. Es bewegte sich nicht. Auf dem Boden lag ein Haufen ordentlich zusammengefalteter Kleidungsstücke, unten am Fußende hatte sich eine schmutzige unbezogene Decke zusammengeballt. Inger Johanne betrat den Raum.
    »Sei vorsichtig«, mahnte Yngvar.
    Er hatte bereits bemerkt, daß die Tür innen keine Klinke hatte. Es war möglich, sie mit einem Haken an der Wand zu befestigen, aber sicherheitshalber blieb er stehen, um sie offenzuhalten.
    »Emilie«, sagte Inger Johanne leise und hockte sich vor dem Bett nieder.
    Das Kind war ein Mädchen, und es öffnete die Augen. Sie waren grün. Sie zwinkerte einige Male, konnte aber offenbar nicht klar sehen. Auf ihrer abgemagerten Brust lag eine Barbiepuppe, die die Beine spreizte und einen schräg aufgesetzten Cowboyhut trug. Inger Johanne nahm behutsam die Hand des Kindes und sagte:
    »Ich bin Inger Johanne. Ich bringe dich jetzt zu deinem Papa.«
    Inger Johanne ließ ihre Blicke über den nackten Mädchenkörper wandern: der war klapperdürr, und die Knie waren mit dicken Krusten bedeckt. Die Hüftknochen ragten hervor wie scharfe Messer, sie schienen jederzeit die dünne durchscheinende Haut durchstoßen zu können. Inger Johanne weinte. Sie zog ihre Jacke aus, sie zog ihren Pullover aus und ihre Unterwäsche; sie stand im BH da und hüllte das Kind wortlos in ihre eigenen Kleidungsstücke.
    »Auf dem Boden liegen Kleider«, sagte Yngvar langsam.
    »Ich weiß nicht, ob das ihre sind«, sagte Inger Johanne, sie schluchzte auf und hob Emilie aus dem Bett.
    Das Kind wog so gut wie nichts. Inger Johanne drückte es vorsichtig an ihre eigene nackte Haut.
    »Sie können ihm gehören. Seine Kleider sein. Sie können diesem verdammten …«
    »Papa«, sagte Emilie. »Mein Papa.«
    »Wir fahren jetzt zu deinem Papa«, sagte Inger Johanne und küßte das Kind auf die Stirn. »Jetzt wird alles wieder gut, kleiner Schatz.«
    Als ob hier noch irgend etwas jemals wieder gut werden könnte, dachte sie und ging auf die Stahltür zu, wo Yngvar vorsichtig seine eigene grobe Jacke über ihre Schultern legte. Als ob du jemals über das hinwegkommen wirst, was
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