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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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würde schon in Ordnung kommen, jetzt, wo Aksel endlich da war.
    »Ich hätte früher kommen können.«
    Aber sie hatte ihn ja nicht darum gebeten. Eines hatte Aksel gewußt: Es war unmöglich, nach Norwegen zu fahren, solange Eva ihn nicht darum bat. Obwohl sie ihn im Grunde auch jetzt nicht dazu aufgefordert hatte, war ihr Brief doch ein Hilferuf gewesen. Der Brief war im Mai eingetroffen, nicht wie sonst im Juni. Es war ein verzweifelter Brief, und als Antwort hatte er sein Leben in den USA beendet und war nach Hause gefahren.
    Aksel trank Saft aus einem großen Glas auf dem Nachttisch. Es schmeckte frisch. Es schmeckte nach Norwegen; Johannisbeersaft und Wasser. Echter Saft. Norwegischer Saft. Er wischte sich den Mund ab und lächelte.
    Aksel hörte etwas und drehte sich halb um. Dann fuhr er zusammen. Er ließ Evas Hand los und ballte unbewußt die Fäuste. Der Polizist mit den Schlüsseln und den feuchten Augen, der von Aksel ein Geständnis einer Tat verlangte, die er nicht begangen hatte, und der ihn danach bis in seine Träume verfolgte, war anders gekleidet gewesen. Altmodischer vielleicht. Dieser Mann trug eine lockere Jacke und eine Hose mit einer Kante im Schachbrettmuster. Aber er war Polizist. Das war Aksel sofort klar, deshalb schaute er zum Fenster hinüber. Evas Zimmer lag im Erdgeschoß.
    »Eva Åsli?« fragte der Mann und kam näher.
    Eva flüsterte eine Bestätigung. Der Mann räusperte sich und trat noch dichter an das Bett heran. Aksel registrierte, daß seine Jacke nach Leder und Motoröl roch.
    »Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Ihr Sohn einen schweren Unfall erlitten hat. Karsten Åsli. Das ist doch Ihr Sohn, oder?«
    Aksel stand auf und hob den Kopf.
    »Karsten Åsli ist unser Sohn«, sagte er langsam. »Evas und meiner.«

67
    Inger Johanne lief ziellos durch die Straßen. Ein schneidender Wind fegte durch die Schluchten zwischen den Hochhäusern des Ibsen-Viertels, und zerstreut stellte sie fest, daß sie auf dem Weg ins Büro war. Dahin wollte sie nicht. Obwohl sie fror, wollte sie draußen sein. Sie steigerte ihr Tempo und spielte mit dem Gedanken, Isak und Kristiane zu besuchen. Sie könnten doch zu dritt einen Ausflug nach Bygdøy machen. Inger Johanne brauchte das jetzt. Nach fast vier Jahren, in denen sie die Verantwortung für Kristiane geteilt hatten, hatte sie sich mit dieser Regelung abgefunden. Wenn ihre Sehnsucht zu groß war, konnte sie Kristiane einfach bei Isak besuchen. Er freute sich, wenn sie kam, und war immer freundlich. Inger Johanne hatte sich an diese Situation gewöhnt. Das bedeutete noch nicht, daß sie damit zufrieden war. Immer wieder verspürte sie eine bohrende Sehnsucht nach der Kleinen, danach, sie in den Arm zu nehmen, sie an sich zu drükken, sie zum Lachen zu bringen. Manchmal war dieses Gefühl unerträglich stark, so wie jetzt. Normalerweise half der Gedanke daran, daß Kristiane sich bei ihrem Vater wohl fühlte. Daß der Vater für das Kind ebenso wichtig war wie die Mutter. Daß es einfach so sein mußte.
    Daß Kristiane nicht ihr Eigentum war.
    Aus ihrem einen Auge strömten Tränen. Daran konnte aber der Wind schuld sein.
    Sie könnten etwas Lustiges unternehmen, alle drei.
    Unni Kongsbakken hatte so stark ausgesehen, als sie das Grand Café betreten hatte, und so müde und verbraucht, als sie gegangen war. Ihr jüngerer Sohn war seit langer Zeit tot. Gestern hatte sie ihren Mann verloren. Heute hatte sie in gewisser Hinsicht das einzige aufgegeben, was ihr geblieben war: eine verschwiegene Geschichte und ihren älteren Sohn.
    Inger Johanne steckte die Hände in die Tasche und beschloß, zu Isak zu gehen.
    Ihr Handy klingelte.
    Sicher war das ihr Büro. Sie hatte sich dort seit gestern nicht mehr blicken lassen. Sie hatte zwar morgens angerufen und mitgeteilt, sie werde zu Hause arbeiten, aber sie hatte nicht einmal nachgesehen, ob irgendwelche E -Mails für sie eingelaufen waren. Sie wollte mit niemandem sprechen. Im Moment wollte sie ihre Ruhe haben, um die Wahrheit über den Mord an der kleinen Hedvig im Jahre 1956 zu verarbeiten. Sie mußte die endgültige Gewißheit verarbeiten, daß Aksel Seier für einen anderen gebüßt hatte. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun, mit wem sie sprechen sollte. Im Moment wußte sie nicht einmal, ob sie Alvhild das alles erzählen würde. Sie ließ ihr Telefon unberührt in der Tasche liegen.
    Das Klingeln verstummte.
    Dann fing es wieder an.
    Gereizt wühlte sie in ihrer Tasche. Das Display zeigte
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