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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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einen solchen Krampf im Magen, daß sie sich vornüberbeugen mußte; sie lehnte die Stirn ans Fenster und versuchte, ruhig zu atmen.
    »Du weißt nicht, wie es Emilie ergehen wird«, sagte Yngvar und stand auf. »Die Zeit heilt fast alle Wunden. Zumindest kann sie uns in die Lage versetzen, mit ihnen zu leben.«
    »Hast du sie nicht gesehen«, sagte Inger Johanne heftig und entzog sich der Hand, die auf ihrer linken Schulter lag. »Hast du nicht gesehen, in welchem Zustand sie war? Sie wird nie wieder sie selbst sein. Nie wieder!«
    Sie schlang sich die Arme um den Leib. Sie wiegte sich hin und her, mit gesenktem Kopf, als halte sie noch immer ein Kind in den Armen.
    » Damaged goods«, hatte Warren einmal gesagt, als sie einen seit fünf Tagen entführten Jungen gefunden hatten. » Those kids are damaged goods, you know.«
    Der Junge war stumm geworden, aber die Ärzte meinten, er könne durchaus irgendwann wieder sprechen lernen. Es werde nur dauern. Auch die Verletzungen im Enddarm würden sie auf irgendeine Weise zusammenflicken können. Es werde nur dauern. Warren zuckte gefühllos mit den Schultern und sagte noch einmal:
    » Damaged goods.«
    Sie war damals zu jung gewesen, jung und verliebt und voller Ehrgeiz auf eine Karriere beim FBI . Deshalb hatte sie nichts gesagt.
    »Kann ich hier übernachten«, fragte Yngvar.
    Sie hob das Gesicht.
    »Es ist schon so spät«, sagte Yngvar.
    Sie versuchte Atem zu holen. Etwas steckte ihr im Hals, und sie fror.
    »Kann ich«, fragte Yngvar.
    »Auf dem Sofa«, sagte Inger Johanne und schluckte. »Du kannst auf dem Sofa schlafen, wenn du willst.«
    Sie wurde von einer Stimme geweckt, die sich durch den Spalt zwischen Rollo und Fensterbank drängte. Lange blieb sie einfach liegen und horchte. In der Nachbarschaft war alles still, nur der eine oder andere Vogel hatte den Tag bereits begonnen. Der Wecker zeigte zehn vor sechs. Sie hatte knapp drei Stunden geschlafen, stand aber trotzdem auf. Erst im Badezimmer fiel ihr ein, daß Yngvar bei ihr übernachtete. Leise schlich sie ins Wohnzimmer.
    Er lag auf dem Rücken, mit offenem Mund. Trotzdem atmete er lautlos; die Decke war zur Hälfte heruntergeglitten und entblößte einen kräftigen Oberschenkel. Er trug blaue Boxershorts und ihr Footballhemd. Sein Arm lag auf der Sofalehne, seine Finger umklammerten den groben Stoff, als fürchte er, auf den Boden zu fallen.
    Äußerlich ähnelte er Warren so sehr. Und in allem anderen kein bißchen.
    Irgendwann werde ich dir von Warren erzählen, dachte sie. Irgendwann werde ich dir erzählen, was damals passiert ist. Aber noch nicht. Ich glaube, wir haben Zeit genug.
    Er grunzte ein wenig, ein leichtes Schnarchen ließ seinen Adamsapfel auf und ab hüpfen. Er suchte im Schlaf nach einer anderen Lage. Die Decke glitt auf den Boden. Vorsichtig deckte sie ihn wieder zu; sie hielt den Atem an und wickelte ihn in eine rotkarierte Wolldecke. Dann ging sie in ihr Arbeitszimmer.
    Die Sonne strömte durch das Ostfenster und blendete sie. Sie ließ das Rollo herunter und schaltete den Computer ein. Ihre Sekretärin an der Uni hatte eine Mail mit insgesamt fünf Mitteilungen geschickt. Nur eine davon war wichtig.
    Aksel Seier war in Norwegen. Er wollte sie treffen und hatte zwei Telefonnummern hinterlassen. Die eine war, wie er mitgeteilt hatte, die des Continental.
    Inger Johanne hatte nicht mehr an Aksel Seier gedacht, seit sie Emilie gefunden hatten. Unni Kongsbakkens Geschichte war in der Grabkammer der Kätnerstelle Snaubu verschwunden. Als Inger Johanne ziellos durch die Straßen von Oslo gewandert war, ehe Yngvar sie aufgelesen hatte und mit ihr zu einem selbstgebauten Bunker auf einem Hügel einige Dutzend Kilometer nordöstlich von Oslo gefahren war, hatte sie nicht so recht gewußt, was sie mit dem Bericht der alten Frau anfangen sollte. Ob sie überhaupt etwas damit anfangen konnte.
    Diese Zweifel waren jetzt verflogen.
    Die Geschichte des Mordes an Hedvig Gåsøy war Aksel Seiers Geschichte. Sie gehörte ihm. Inger Johanne wollte sich mit ihm treffen, ihm das geben, was ihm gehörte, und dann mit ihm zu Alvhild gehen. Erst dann wäre sie mit Aksel Seier fertig.
    Inger Johanne drehte sich um. Yngvar stand in der Türöffnung, barfuß. Er kratzte sich am Bauch und lächelte verlegen.
    »Ganz schön früh. Verdammt früh. Soll ich Kaffee kochen?«
    Ohne auf eine Antwort zu warten, kam er auf sie zu und umschloß ihr Gesicht mit seinen Händen. Er küßte sie nicht, aber er lächelte noch
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