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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Autoren: John Burnside
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kann ich mich nicht erinnern. Ich kenne nur diese Insel – Kvaløya auf dem siebzigsten nördlichen Breitengrad, hoch oben am Polarkreis, jenen Ort, den Mutter sich aussuchte, als sie entschied, alles zu ändern und mit ihrem Leben von vorn zu beginnen. In Oslo war sie recht erfolgreich gewesen, nicht so bekannt wie heute, aber auf dem besten Weg dahin. Damals hielt man sie vor allem für eine Porträtmalerin. Sie besaß eine große Wohnung, interessante Freunde und einen guten Ruf – genau das, was sie sich früher zu wünschen gemeint hatte. Eines Tages aber beschloss sie, zum Polarkreis zu ziehen. Dafür gab es eigentlich keinen Grund: Sie war nie zuvor dort gewesen, und sie kannte keine Menschenseele nördlich von Trondheim. Vielleicht aber ist sie, sobald sie den Entschluss gefasst hatte, genau deshalb hierhergekommen, an einen Ort, den sie nicht einmal dem Namen nach kannte, als sie die Karte auf ihrem Zeichenbrett ausbreitete und sich ansah, was damals für sie abgelegene, menschenleere Gegenden gewesen sein mussten: lang gezogene Archipele von Vogelschwärmen heimgesuchter Inseln, die weiße Weite der Finnmarksvidda, die ihr nur von alten Bildern und aus Kinderbüchern bekannten Fjorde und Küstenstädte. Eine Weile dachte sie daran, nach Røros zu ziehen, wo Harald Sohlberg lange gelebt hatte. Sohlberg war damals wie heute ihr Lieblingsmaler, von dessen Einfluss auf das eigene Werk sie erzählte, sooft sie Interviews gab (und die gab sie öfter, als es einer vermeintlichen Einsiedlerin anstünde). Letztlich aber schien ihr das wohl zu offensichtlich. Also entschied sie sich für Kvaløya, da es weit genug von allem entfernt lag, was sie kannte, und weil ihr – falls man wirklich glauben darf, was sie in Interviews erzählt – der Name gefiel. Es gibt noch andere Kvaløyas, aber dies ist die Insel, auf die ihre Wahl fiel, und als sie ankam, die Küste und das hohe, graue Haus mit Blick über den Malangen sah, wusste sie, sie würde nie wieder fortziehen. Ich muss sie auf dieser ersten Fahrt zu unserem neuen Heim begleitet haben, kann mich aber an nichts erinnern. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, in Oslo gewohnt zu haben, und ich erinnere mich genauso wenig daran, aus der Stadt fortgezogen zu sein. Für mich ist es, als hätte ich nie irgendwo anders gelebt, und auf den wenigen Reisen, die wir nach Bergen, Oslo und einmal, als ich zwölf war, nach London unternahmen, kamen mir diese Orte ziemlich unwirklich vor.
    Nein. Kvaløya, Tromsø, Sommarøy, Hillesøy, das sind für mich die wirklichen Orte, Heimatorte. Ich stelle mir Mutter an dem Tag vor, an dem sie entschied, in den Norden zu ziehen, stelle mir vor, wie sie die Landkarte studierte und laut Namen vorlas, als versprächen sie ihr eine Parallelwelt, wo alles ist, wie es schon immer war. Irgendwie verhält sich die Zeit hier anders; alte Geschichten dauern fort im Holz der Bootshäuser und Fähranleger, Zeit strömt dahin und versinkt in den Flecken von Sommergras und Weidenröschen, die entlang der Straßen wachsen. Man braucht nur den richtigen Tag zu wählen, das richtige Wetter, und man kommt im Morgenlicht an einen verborgenen Ort, an dem die Zeit lang vor der eigenen Geburt stehengeblieben war. Oder man biegt in einen schmalen Pfad durch die Wiesen ein und gelangt in jenes geheime Land, das diese Namen heraufbeschworen, irgendwo im Sonnenlicht der Sechziger. Natürlich existiert die Zeit noch – draußen in jener Welt, in der andere Menschen leben, doch ist sie nur eine Idee, etwas rein Theoretisches. Dort in der geschäftigen Welt ticken die Uhren, wir aber sind meist allein auf unserer Walinsel, und hier gibt es nicht viel, was auf die vergehende Zeit hinweist, nicht in weißen Sommernächten, nicht in der Winterdunkelheit. Deshalb hat sich Mutter für ebendieses graue Haus an ebendiesem Straßenabschnitt zwischen Mjelde und Brensholmen entschieden – sie wollte nicht unbedingt fern von anderen Menschen sein, sich aber von der Last der Zeit befreien, und das geht nur, wenn man allein lebt. Bis auf Kyrre Opdahls Haus haben wir als einzigen Nachbarn an diesem Küstenabschnitt eine winzige Hytte, eines dieser kleinen Sommerhäuser, wie man sie sich zum Jagen oder Angeln baut, eine Hytte, die jetzt Sommergäste gemietet haben, obwohl es eigentlich kein richtiges Haus ist, nur eine Kate, hingeduckt auf ihrem Streifen Gras und Unkraut am Strand. Sie steht viel näher am Meer als unser Haus, fast so nah wie der kleine Verschlag, in dem
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