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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Autoren: John Burnside
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vor der Haustür, fühlte mich aber plötzlich seltsam ungeschützt und – so lächerlich dies klingen mag – als drohte mir Gefahr. Es kostete mich eine beträchtliche Anstrengung, dieser Angst nicht nachzugeben, diesem Gefühl der Vorahnung, das sich von einem Atemzug zum nächsten in blinde, kopflose Panik verwandelte.
    Ich war schon fast im Haus, fast in Sicherheit, als ich den Schrei hörte. Es war ein Laut, wie ich dergleichen nie gehört hatte, ein Schrei, ein Kreischen, ein wildes, angstdurchsetztes Brüllen, das einen schrecklichen Augenblick lang direkt neben mir ausgestoßen zu werden schien, ehe ich es einordnen konnte und begriff, dass es vom Weg kam, aus der Richtung, die Kyrre und Maia vor wenigen Minuten eingeschlagen hatten. Es war ein unvermittelter, schriller Schrei, der letzte Schrei von etwas, das man erst gefangen und dann niedergeschlagen hatte, ein Schrei, erschreckend in seiner Endgültigkeit, und doch hätte ich nicht zu sagen gewusst, ob er von einem Mädchen stammte, einem alten Mann oder einem Tier, das irgendein Raubvieh gerissen hatte, unten auf der Weide oder irgendwo in den Wäldern. Mädchen, Mann oder Tier, und doch weder das eine noch das andere – in den alten Geschichten wäre es gewiss der Schrei von nichts Lebendigem gewesen, sondern das jenseitige Kreischen einer Harpyie, einer Kelpie, das widerhallte in der stillen Luft eines Nachmittags, der sich dank einer Logik, der kein Sterblicher zu folgen vermochte, als verfluchter Nachmittag erwies.

***
    Ich versuche mir einzureden, dass ich an irgendeinem anderen Tag mit Vernunft auf das Gehörte reagiert hätte. Als das Kreischen verklang – was keine akkurate Beschreibung für das Gefühl ist, das ich hatte, dieses Gefühl, dass sich in der Ferne etwas verlor, nicht verhallte, sondern in kilometerweitem Umkreis vom Land absorbiert wurde, von den Birken, Wiesen, der weißen Luft über dem Fjord, so gründlich absorbiert, dass es niemals wieder verschwinden würde –, als dieser schreckliche Schrei also vom Gewebe der Welt aufgesogen wurde, hätte ich versuchen sollen, es als irgendein natürliches Vorkommnis abzutun. Ein Wild, das im fernen Gras geschlagen wurde, irgendein Raubtier, das sich einen Vogel oder Hasen holte, oder ein Geräusch, wie es fremde Schiffe manchmal machen, wenn sie aus dem Kanal ins offene Meer gesteuert werden. Ich hätte mir sagen können, dass unten auf der Straße nach Brensholmen ein Reifen geplatzt war oder dass weiter oben am Strand ein Meeresvogel einen Schrei ausgestoßen hatte. Oft genug hatte ich hier schon Geräusche gehört, die ich nicht erklären konnte, ein seltsames Heulen im Wind in den frühen Morgenstunden der Midnattsol, ein schrilles Jammern über dem Schnee in der dunklen Zeit, Vogelrufe, wo es keine Vögel geben konnte, Tiergeräusche im Wald, wenn ich in mittäglicher Dunkelheit unterwegs war und mir vorstellte, wie der Vielfraß aus dem fernen Norden herabkam und dem Licht meiner Taschenlampe folgte. Hier ist kein Laut unwahrscheinlich, aber dieser Laut war unmöglich, und als er verklang, als er mir ebenso gewiss in Haut und Knochen drang wie in das Land um mich her, wusste ich, er kam von irgendwo auf dem Weg zwischen unserem Haus und dem von Kyrre Opdahl. Er ließ mich zusammenfahren, dieser Schrei, und in jenen Momenten, in dem er verging, hielt er mich noch immer gefangen, doch nur diesen Moment lang, kaum aber war der vorbei, rannte ich blindlings darauf zu, rannte durch das Gartentor und über den Weg zum Tatort, an dem wer weiß welches Verbrechen begangen worden war, in Rufweite des Hauses, in dem Mutter fraglos vor einer Leinwand stand und letzte Pinselstriche an einem Bild anbrachte, das sie niemals hätte beginnen sollen, und so absurd es heute auch klingt, sah ich sie wie in einer Vision vor mir in dem, was Maia ihr nettes Atelier genannt hatte, sah sie das fertige Porträt anlächeln, froh, eingefangen zu haben, was sie einfangen wollte, in einem ebenso mädchenhaften wie unmenschlichen Antlitz. Sie hielt kaum eine Sekunde vor, diese flüchtige Vision, doch war sie ebenso eindringlich wie der Schrei – den Mutter vermutlich nicht einmal gehört hatte, arbeitete sie doch auf der anderen Hausseite und hatte gewiss so wie stets, wenn ihre Arbeit sie faszinierte, alles um sich herum vergessen.
    Der Weg zu Kyrres Haus ist steil und uneben, trotzdem dürfte es nicht lang gedauert haben, bis ich die Stelle erreichte, von der jener Schrei aufgestiegen war – und obwohl
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