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In der Strafkolonie

In der Strafkolonie

Titel: In der Strafkolonie
Autoren: Franz Kafka
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ihn zur Seite. »Ich
    will einige Worte im Vertrauen mit Ihnen sprechen,« sagte er,
    »ich darf das doch?« »Gewiß,« sagte der Reisende und hörte mit
    gesenkten Augen zu.
    »Dieses Verfahren und diese Hinrichtung, die Sie jetzt zu be-
    wundern Gelegenheit haben, hat gegenwärtig in unserer Kolonie
    keinen offenen Anhänger mehr. Ich bin ihr einziger Vertreter,
    gleichzeitig der einzige Vertreter des Erbes des alten Komman-
    danten. An einen weiteren Ausbau des Verfahrens kann ich nicht
    mehr denken, ich verbrauche alle meine Kräfte, um zu erhal-
    ten, was vorhanden ist. Als der alte Kommandant lebte, war die
    Kolonie von seinen Anhängern voll; die Überzeugungskraft des
    alten Kommandanten habe ich zum Teil, aber seine Macht fehlt
    mir ganz; infolgedessen haben sich die Anhänger verkrochen, es
    gibt noch viele, aber keiner gesteht es ein. Wenn Sie heute, also
    an einem Hinrichtungstag, ins Teehaus gehen und herumhor-
    chen, werden Sie vielleicht nur zweideutige Äußerungen hören.
    Das sind lauter Anhänger, aber unter dem gegenwärtigen Kom-
    mandanten und bei seinen gegenwärtigen Anschauungen für
    mich ganz unbrauchbar. Und nun frage ich Sie: Soll wegen die-
    ses Kommandanten und seiner Frauen, die ihn beeinflussen, ein
    solches Lebenswerk« — er zeigte auf die Maschine — »zugrunde
    gehen? Darf man das zulassen? Selbst wenn man nur als Frem-
    der ein paar Tage auf unserer Insel ist? Es ist aber keine Zeit zu
    verlieren, man bereitet etwas gegen meine Gerichtsbarkeit vor; es
    finden schon Beratungen in der Kommandantur statt, zu denen
    ich nicht zugezogen werde; sogar Ihr heutiger Besuch scheint
    mir für die ganze Lage bezeichnend; man ist feig und schickt Sie,
    einen Fremden, vor. — Wie war die Exekution anders in frühe-
    rer Zeit! Schon einen Tag vor der Hinrichtung war das ganze Tal
    von Menschen überfüllt; alle kamen nur um zu sehen; früh am
    Morgen erschien der Kommandant mit seinen Damen; Fanfaren
    weckten den ganzen Lagerplatz; ich erstattete die Meldung, daß
    alles vorbereitet sei; die Gesellschaft — kein hoher Beamte durf-
    te fehlen — ordnete sich um die Maschine; dieser Haufen Rohr-
    sessel ist ein armseliges Überbleibsel aus jener Zeit. Die Maschi-
    ne glänzte frisch geputzt, fast zu jeder Exekution nahm ich neue
    Ersatzstücke. Vor Hunderten Augen — alle Zuschauer standen
    auf den Fußspitzen bis dort zu den Anhöhen — wurde der Ver-
    urteilte vom Kommandanten selbst unter die Egge gelegt. Was
    heute ein gemeiner Soldat tun darf, war damals meine, des Ge-
    richtspräsidenten, Arbeit und ehrte mich. Und nun begann die
    Exekution! Kein Mißton störte die Arbeit der Maschine. Manche
    sahen nun gar nicht mehr zu, sondern lagen mit geschlossenen
    Augen im Sand; alle wußten: Jetzt geschieht Gerechtigkeit. In
    der Stille hörte man nur das Seufzen des Verurteilten, gedämpft
    durch den Filz. Heute gelingt es der Maschine nicht mehr, dem
    Verurteilten ein stärkeres Seufzen auszupressen, als der Filz
    noch ersticken kann; damals aber tropften die schreibenden
    Nadeln eine beizende Flüssigkeit aus, die heute nicht mehr ver-
    wendet werden darf. Nun, und dann kam die sechste Stunde! Es
    war unmöglich, allen die Bitte, aus der Nähe zuschauen zu dür-
    fen, zu gewähren. Der Kommandant in seiner Einsicht ordnete
    an, daß vor allem die Kinder berücksichtigt werden sollten; ich
    allerdings durfte kraft meines Berufes immer dabeistehen, oft
    hockte ich dort, zwei kleine Kinder rechts und links in meinen
    Armen. Wie nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung von
    dem gemarterten Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den
    Schein dieser endlich erreichten und schon vergehenden Ge-
    rechtigkeit! Was für Zeiten, mein Kamerad!« Der Offizier hatte
    offenbar vergessen, wer vor ihm stand; er hatte den Reisenden
    umarmt und den Kopf auf seine Schulter gelegt. Der Reisende
    war in großer Verlegenheit, ungeduldig sah er über den Offizier
    hinweg. Der Soldat hatte die Reinigungsarbeit beendet und jetzt
    noch aus einer Büchse Reisbrei in den Napf geschüttet. Kaum
    merkte dies der Verurteilte, der sich schon vollständig erholt zu
    haben schien, als er mit der Zunge nach dem Brei zu schnappen
    begann. Der Soldat stieß ihn immer wieder weg, denn der Brei
    war wohl für eine spätere Zeit bestimmt, aber ungehörig war es
    jedenfalls auch, daß der Soldat mit seinen schmutzigen Händen
    hineingriff und vor dem gierigen Verurteilten davon aß.
    Der Offizier faßte sich schnell. »Ich
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