Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Strafkolonie

In der Strafkolonie

Titel: In der Strafkolonie
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
alte Lage zurückkehren, aber als merke sie selbst,
    daß sie von ihrer Last noch nicht befreit sei, blieb sie doch über
    der Grube. »Helft doch!« schrie der Reisende zum Soldaten und
    zum Verurteilten hinüber und faßte selbst die Füße des Offiziers.
    Er wollte sich hier gegen die Füße drücken, die zwei sollten auf
    der anderen Seite den Kopf des Offiziers fassen, und so sollte
    er langsam von den Nadeln gehoben werden. Aber nun konn-
    ten sich die zwei nicht entschließen zu kommen; der Verurteilte
    drehte sich geradezu um; der Reisende mußte zu ihnen hinüber-
    gehen und sie mit Gewalt zu dem Kopf des Offiziers drängen.
    Hierbei sah er fast gegen Willen das Gesicht der Leiche. Es war,
    wie es im Leben gewesen war; kein Zeichen der versprochenen
    Erlösung war zu entdecken; was alle anderen in der Maschine
    gefunden hatten, der Offizier fand es nicht; die Lippen waren
    fest zusammengedrückt, die Augen waren offen, hatten den
    Ausdruck des Lebens, der Blick war ruhig und überzeugt, durch
    die Stirn ging die Spitze des großen eisernen Stachels.
    Als der Reisende, mit dem Soldaten und dem Verurteilten hinter
    sich, zu den ersten Häusern der Kolonie kam, zeigte der Soldat
    auf eins und sagte: »Hier ist das Teehaus.«
    Im Erdgeschoß eines Hauses war ein tiefer, niedriger, höhlen-
    artiger, an den Wänden und an der Decke verräucherter Raum.
    Gegen die Straße zu war er in seiner ganzen Breite offen. Trotz-
    dem sich das Teehaus von den übrigen Häusern der Kolonie, die
    bis auf die Palastbauten der Kommandantur alle sehr verkom-
    men waren, wenig unterschied, übte es auf den Reisenden doch
    den Eindruck einer historischen Erinnerung aus, und er fühlte
    die Macht der früheren Zeiten. Er trat näher heran, ging, gefolgt
    von seinen Begleitern, zwischen den unbesetzten Tischen hin-
    durch, die vor dem Teehaus auf der Straße standen, und atmete
    die kühle, dumpfige Luft ein, die aus dem Innern kam. »Der Alte
    ist hier begraben,« sagte der Soldat, »ein Platz auf dem Fried-
    hof ist ihm vom Geistlichen verweigert worden. Man war eine
    Zeitlang unentschlossen, wo man ihn begraben sollte, schließ-
    lich hat man ihn hier begraben. Davon hat Ihnen der Offizier
    gewiß nichts erzählt, denn dessen hat er sich natürlich am mei-
    sten geschämt. Er hat sogar einigemal in der Nacht versucht, den
    Alten auszugraben, er ist aber immer verjagt worden.« »Wo ist
    das Grab?« fragte der Reisende, der dem Soldaten nicht glauben
    konnte. Gleich liefen beide, der Soldat wie der Verurteilte, vor
    ihm her und zeigten mit ausgestreckten Händen dorthin, wo
    sich das Grab befinden sollte. Sie führten den Reisenden bis zur
    Rückwand, wo an einigen Tischen Gäste saßen. Es waren wahr-
    scheinlich Hafenarbeiter, starke Männer mit kurzen, glänzend
    schwarzen Vollbärten. Alle waren ohne Rock, ihre Hemden wa-
    ren zerrissen, es war armes, gedemütigtes Volk. Als sich der Rei-
    sende näherte, erhoben sich einige, drückten sich an die Wand
    und sahen ihm entgegen. »Es ist ein Fremder,« flüsterte es um
    den Reisenden herum, »der will das Grab ansehen.« Sie schoben
    einen der Tische beiseite, unter dem sich wirklich ein Grabstein
    befand. Es war ein einfacher Stein, niedrig genug, um unter ei-
    nem Tisch verborgen werden zu können. Er trug eine Aufschrift
    mit sehr kleinen Buchstaben; der Reisende mußte, um sie zu le-
    sen, niederknien. Sie lautete: ›Hier ruht der alte Kommandant.
    Seine Anhänger, die jetzt keinen Namen tragen dürfen, haben
    ihm das Grab gegraben und den Stein gesetzt. Es besteht eine
    Prophezeiung, daß der Kommandant nach einer bestimmten
    Anzahl von Jahren auferstehen und aus diesem Hause seine An-
    hänger zur Wiedereroberung der Kolonie führen wird. Glaubet
    und wartet!‹ Als der Reisende das gelesen hatte und sich erhob,
    sah er rings um sich die Männer stehen und lächeln, als hätten
    sie mit ihm die Aufschrift gelesen, sie lächerlich gefunden und
    forderten ihn auf, sich ihrer Meinung anzuschließen. Der Rei-
    sende tat, als merke er das nicht, verteilte einige Münzen un-
    ter sie, wartete noch bis der Tisch über das Grab geschoben war,
    verließ das Teehaus und ging zum Hafen.
    Der Soldat und der Verurteilte hatten im Teehaus Bekannte
    gefunden, die sie zurückhielten. Sie mußten sich aber bald von
    ihnen losgerissen haben, denn der Reisende befand sich erst in
    der Mitte der langen Treppe, die zu den Booten führte, als sie
    ihm schon nachliefen. Sie wollten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher