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In der Mitte des Lebens

Titel: In der Mitte des Lebens
Autoren: Margot Käßmann
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Barlachs schließlich ist eine Frau im Wind. Einige der Figuren Barlachs sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im Wind stehen. Diese
     Frau fasziniert durch eine herbe Schönheit. Und durch den Schmerz, den ihr Gesicht kennzeichnet. Was hat sie erlebt und erfahren? Welcher Wind hat ihr ins
     Gesicht geblasen? Der Verlust einer Liebe? Der Tod eines Kindes? Missachtung oder Krieg? Wir wissen es nicht, aber sie ist eine tief berührende Figur.
    Wie gern hätte ich die anderen dreizehn Figuren von Barlach gesehen! Auf so eindrückliche Weise zeigt er schon mit diesen Dreien: Heilige sind eben
     nicht perfekte oder solche, die sich aufopfern im Leben. Heilige sind gerade auch die Gebrochenen, die schweren Herzens sind, die Trauernden, all
     diejenigen, die Jesus in der Bergpredigt »selig« nennt. Es sind Menschen, denen bewusst ist, dass sie ganz und gar auf die Gnade Gottes angewiesen
     sind. Kein klares, vielleicht überhebliches Leben also, sondern eines in Demut und mit gebeugtem Knie.
    Die drei Figuren zeigen, wie fragmentarisch unser Leben ist. Es gibt immer wieder Schmerz und Leid. Unsere Lebenspläne werden manches
     Mal brutal durchkreuzt, das Lebenskonzept lässt sich nicht verwirklichen, etwas, das stabil schien, zerbricht in Scherben. Und trotz alledem ist das Leben
     ein Ganzes, kann sozusagen »heil werden« vor Gott. Dass ich angenommen bin auch mit dem Stückwerk, das mein Leben ausmacht; dass das Leben oft keine
     Erfolgsstrecke ist und gerade meine Bedürftigkeit bei Gott angesehen wird, und dass meine Grenzen der Ort sind, an dem ich Gott erfahren kann, das zeigt
     mir neben den Figuren Barlachs auch der Vers aus dem Psalm, der über diesem Abschnitt steht. Unser Leben wird immer fragmentarisch bleiben. Das gehört zum
     Menschsein.
Abschied nehmen
    Wenn wir älter werden und die Mitte des Lebens erreichen, werden wir Abschied nehmen müssen von lieben Menschen. Manchmal gelingt der
     Abschied nach einer langen gemeinsamen Strecke, gelingt auch das Nahesein im Bewusstsein der sehr begrenzten Zeit; so habe ich es mit meinem Freund Jan
     Kok empfunden. Manchmal kommt ein Abschied schockierend plötzlich wie bei meiner Schulfreundin, die nicht wollte, dass wir wissen, wie es um sie
     steht. Dann kann man auf der letzten Strecke nicht zusammen sein … Gelernt habe ich über die Jahre, dass ein bewusster Abschied zwar sehr weh tut, aber
     doch bereichernd ist – sicher auch für den, der geht, und bestimmt für die, die bleibt.
    Fast zwanzig Jahre kannte ich Jan Kok, das war eine gute Erfahrung einer deutsch-holländischen Freundschaft. Als deutlich war, dass das Sterben in
     Sichtweite geriet, habe ich ihm einen letzten Brief geschrieben, den ich nachstehend abdrucke. Wie so oft konnte ich am besten mit der Situation umgehen,
     indem ichsie aufgeschrieben habe, unmittelbar im Anschluss an ein langes Telefonat. Jan Kok hat sich mit der Veröffentlichung dieses
     Briefes noch einverstanden erklären können. Er starb am 7. Februar 2002.

    Januar 2002
    Lieber Jan, 58
    eben habe ich den Telefonhörer aufgelegt. Mein Telefon sagt mir, dass wir eine Stunde, 24 Minuten und zwölf Sekunden telefoniert haben! Du hast sehr schwach geklungen am Schluss …
    Wie immer haben wir über Gott und die Welt gesprochen, im wahrsten Sinne des Wortes: Deine Söhne und meine Töchter, gemeinsame Freunde, Holland und Deutschland, den Ökumenischen Rat der Kirchen, die Globalisierung, den Euro. Wir haben Englisch miteinander gesprochen, ab und zu verfalle ich ins Deutsche oder du ins Französische oder Niederländische, wenn da etwas klarer ausgedrückt werden kann. Das war immer so. Und doch war es heute anders. Wir wussten beide, dass es vielleicht das letzte oder vorletzte Gespräch ist, das wir führen können. Und bei all deiner Tapferkeit bin ich jetzt doch den Tränen nahe. In dem Brief von dir, den ich heute bekommen habe und der am 23.12. in Genf abgestempelt wurde, (warum hat der nur so lange gebraucht???) schreibst du: »Meine Gesundheit bricht zusammen. Auch wenn mein Kopf noch funktioniert (jedenfalls mit all den Begrenzungen, die ich immer hatte), folgt der Körper doch nicht, insbesondere die Muskeln. Ich habe jetzt über 30 Kilo verloren.«
    Wann haben wir uns eigentlich kennengelernt? Es muss 1983 bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver gewesen sein. Jedenfalls kannte ich dich von Weitem seit damals. Das heißt: Ich wusste, wer du warst, und du wusstest, wer ich war.
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