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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Autoren: Ales Pickar
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Plötzlich sah ich auf einen blassen, jungen Kerl mit Doppelkinn und langen Haaren. Ich fuhr erneut über das Bild und blickte auf das Foto eines alten Herren mit Kotelettenbart und buschigen Augenbrauen. Das nächste Bild zeigte einen Mann, der mich an meinen Mathelehrer erinnerte.
    »Versuche es so lange, bis du ein Bild findest, das dir ähnelt.«
    Ich passierte ungefähr fünfzig Bilder, bis ich auf das Portrait eines vollbärtigen Kerls ungefähr in meinem Alter sah. Es war ähnlich genug, die Haarfarbe stimmte und der Vollbart war eine günstige Täuschung. Ich klappte den Pass zu und war nun Jeffrey Underhill.
    »Die übliche Verfahrensweise sieht vor« , erklärte Korvinian, »ein bereits vorhandenes Foto aus einem anderen Ausweis zu nehmen, es gegen das mimetische Bild zu pressen und so eine Kopie zu erschaffen, die in die Datenbank aufgenommen wird. So reist man sofort mit einem Pass, der auch ein authentisches Foto trägt.«
    Ich öffnete eines der anderen Bücher. Auch seine Seiten waren ausgeschnitten. Hier lag ein Reservemagazin für die Pistole. Ich klappte es schnell wieder zu und ließ es zurück in die Tasche gleiten. Ich reiste mit einer geladenen Schusswaffe und einem Reserveclip durch die Gegend, hatte einen falschen Reisepass, den im Grunde nur ein Zeitreisender aus der Zukunft hierher geschmuggelt haben konnte, und als ob das nicht genug gewesen wäre — ich entführte vier ausländische Frauen, die vermutlich schon längst in der Obhut der Polizei sein sollten.
    Eins stand fest — wenn diese Geschichte eine falsche Wendung nahm und nicht richtig interpretiert wurde, konnte ich mein halbes Leben im Knast verbringen, ohne auch nur ein klitzekleines Stück des geheimnisvollen Schleiers über diesem Rätsel gelüftet zu haben.
    Das dritte Buch setzte dem Ganzen die Krone auf. Im Hohlraum dieser Schwarte befanden sich eine Injektionsspritze und eine zeigefingergroße Ampulle mit einer blauen, klaren Flüssigkeit. Es konnte also sein, dass ich auch noch Drogen durch die Gegend fuhr. Aber vielleicht war das ein tödliches Gift, ein Wahrheitsserum, die Probe eines mutierten Virus, das als Biowaffe eingesetzt werden sollte.
    »Was ist die blaue Flüssigkeit, die mit einer Spritze in einem der Bücher liegt?«
    Es dauerte eine Weile, bis Korvinian antwortete. Ich hatte das intensive Gefühl, einen empfindlichen Nerv bei dieser undurchsichtigen Geschichte getroffen zu haben.
    »Es ist Thanatol, kombiniert mit Lysergsäurediethylamid« , lautete die im Tonfall nüchtern anmutende Antwort.
    »LSD?« rief ich in meinem Erstaunen beinahe aus und dämpfte schuldbewusst meine Stimme. »Was seid ihr für Typen? Und was ist Thanatol?«
    Korvinian war nicht bereit, diese Frage zu beantworten.
    »Du solltest dich lieber ausruhen. Sollte es uns nicht gelungen sein, eure Verfolger zu täuschen, werde ich dich wecken. Dann müssen wir weitere Maßnahmen ergreifen.«
    Ein leises Klicken verriet mir, dass er sich feige aus der Leitung entfernt hatte.
    Ich nahm das vierte Buch in die Hand und musste feststellen, dass es — genauso wie das fünfte und letzte — lediglich ein altes Buch war. Ich erinnerte mich, dass sie in dem Schließfach beide obenauf lagen, wie die Stierhaut, die Prometheus über das geschlachtete Fleisch spannte, bevor er vor Zeus trat.
    Beide waren in gutem Zustand, jedoch mit Gebrauchsspuren, gedruckt auf vergilbtem Papier. Das eine enthielt Gedichte von Rainer Maria Rilke und trug den Titel Duineser Elegien . Das andere stammte aus entfernterer Vergangenheit, geschrieben von einem Mann namens Dionysius Areopagita und hieß »De caelesti hierarchia — Die himmlische Hierarchie« .
    Ich sah mir ihre Rückseiten an und blätterte lustlos in ihnen. Zu sehr stand ich noch unter dem schockierenden Eindruck einer Knarre in meinem Rucksack und einer Spielkonsole, durch die man mit einer Geheimorganisation sprechen konnte.
    Nach einer Weile bemerkte ich, dass beide Bücher, obwohl so unterschiedlich, eins gemeinsam hatten: sie handelten von Engeln. Ich las einige Zeilen von Rilke, gegen die Müdigkeit und Erschöpfung ringend.
     
    S ELTSAM , DIE W ÜNSCHE NICHT WEITERZUWÜNSCHEN . S ELTSAM ,
    ALLES , WAS SICH BEZOG , SO LOSE IM R AUME
    FLATTERN ZU SEHEN . U ND DAS T OTSEIN IST MÜHSAM
    UND VOLLER N ACHHOLN , DASS MAN ALLMÄHLICH EIN WENIG
    E WIGKEIT SPÜRT . — A BER L EBENDIGE MACHEN
    ALLE DEN F EHLER , DASS SIE ZU STARK UNTERSCHEIDEN .
    E NGEL ( SAGT MAN ) WÜSSTEN OFT NICHT , OB SIE UNTER
    L
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