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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Autoren: Ales Pickar
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gerade über die Metallplattform und sprang auf den Bahnsteig. Ich hörte ihn wieder schießen und wagte es nicht, ihm zu folgen. Die gedämpften Schüsse gingen im Geräusch der blechernen Zugansage unter.
    »Komm raus«, befahl Tristan.
    Wir eilten vorbei an drei Männern, die auf dem Boden lagen.
    »Hier wird es in Minuten von der Polizei nur so wimmeln«, erklärte er, während er seine Pistole einsteckte. Ich verbarg meine in der Hängetasche. Wir rannten durch den Verbindungstunnel zur Haupthalle zurück, vorbei an Passanten, die uns angewidert entgegenblickten.
    »Was ist eigentlich an der Polizei so schlecht?« keuchte ich.
    »Witzbold«, erwiderte Tristan. Er hob kurz die Hand an und überkreuzte seinen Zeige- und Mittelfinger. »Die Polizei und Kerygma sind so.«
    Als mich die vier jungen Frauen sahen, hellte sich ihr Gesicht auf. Doch nur eine Sekunde später verstanden sie, was ich von ihnen verlangte. Ich hätte gerne ihre Selbstbeherrschung. Wortlos hängten sie sich an unsere Fersen. Tristan sah sich trotz der Eile um und ich begriff, dass er jeder Zeit bereit war, hier inmitten all der Leute eine Schießerei zu eröffnen.
    »Gleis 9«, erklärte er wortkarg und schubste mich die Treppe hoch.
    Der ICE hielt gerade an, begleitet von weiteren unverständlichen Durchsagen. Niemand stieg hier in Pasing aus, und so glitten wir bereits durch die sich öffnende Tür hinein.
    Ich drehte mich um und sah zum Bahnsteig zurück.
    »Und du?« rief ich.
    Tristan zog sich seine seltsame Mütze in die Stirn und sah mich nur für einen sehr kurzen Augenblick an. Dann fixierte er die Treppe, die hinunter in den Verbindungstunnel führte.
    »Meine Arbeit ist getan«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Jetzt muss ich sicherstellen, dass eure Verfolger glauben, ihr sitzt in einem Zug nach Paris.«
    Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte und wie er das anstellen wollte.
    Der Aufenthalt des ICE war nur kurz. Die Tür schloss sich vor meiner Nase und nur wenig später setzte sich der Bahnsteig vor dem Fenster in Bewegung. Ich sah den rätselhaften Tristan noch einige Sekunden lang, bevor er aus meinem Sichtfeld verschwand. Er hatte nicht mehr zu mir gesehen. Zuletzt hatte ich den Eindruck, als rutschte seine Hand wieder unter den Mantel, wo sich seine Waffe befand.

Fragment: Der verhinderte Reisende
     
    Reisen... In einen Zug steigen und bis zum Meer fahren. Dann jedes beliebige Schiff nehmen und davon driften. Nach Manila oder Sansibar. Den Zugvögeln folgen und in die Welt der Gerüche fliehen. Ich wollte immer reisen. Warum tat ich es nie? Die Gründe dafür pendelten irgendwo zwischen Armut und Ausreden. Wohl mehr letzteres. Das Geld für eine Reise zu verdienen ist sogar in München nicht so schwer. Auch wenn es sich um ein halbes Jahr in Indien oder ein paar Monate in Venezuela handeln mag — es ist im Grunde für jeden machbar. Doch dann gilt es, die Wohnung aufzugeben, denn wer kann in München sechs Monate »aussteigen« und sich dabei gemütlich eine Wohnung halten? Und warum habe ich meine Wohnung nicht aufgegeben? Weil sie bis zum Rand gefüllt ist mit Comic-Heften. Tausenden davon. Die Regale und ich waren offensichtlich unzertrennlich. Und ich, der Einzelgänger aus Überzeugung, hatte niemanden, dem ich sie für gewisse Zeit andrehen konnte.
    Wo hier wohl die Ausreden anfangen?
    Wenn ich mich an mein früheres Dasein erinnere, kommen mir diese Überlegungen wieder in den Sinn. Meine jugendlichen Sehnsüchte. Meine Schwächen. Meine Lügen. Und ich erkenne, wie sehr die Gedanken eines Menschen stets geprüft werden müssen, auf ihren Zweck hin, anderen Dingen zu dienen, als sie eigentlich vorgeben. Wir geben vor, Großes leisten zu wollen. Wir erzählen so oft unseren Freunden, wie sehr wir berufen sind, die Pfade der Veränderung zu beschreiten. Doch unser ganzes Leben lang suchen wir nach Gründen, es nicht tun zu müssen. Als ich noch ein Kind war und wieder einmal brav die Sieben Weltwunder aufgesagt hatte, meinte mein Onkel zu mir: »Ich wollte immer weit hinaus. Aber da war meine Familie, die Kinder...« Ich verstand damals nicht, was er meinte. Sein Satz passierte mein Ohr, ohne mich zu berühren. Als eine weitere geheimnisvolle Formulierung, die Erwachsene wie Signale durch den Raum senden. Hätte ich es schon damals verstanden, hätte ich aufspringen müssen und rennen, rennen, bis zum Horizont und darüber hinaus. Immer weiter und ohne jemals stehen zu bleiben.
    Wir müssen auf Stimmen hören,
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