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In aller Unschuld Thriller

In aller Unschuld Thriller

Titel: In aller Unschuld Thriller
Autoren: Tami Hoag
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zu den Gleisen blickte, war kein Zug zu sehen. Falls doch einer dort gewesen war, dann musste er von der riesigen schwarzen Trichterwolke verschluckt worden sein, die über den Boden tanzte und alles gierig verschlang, was ihr in den Weg kam.
    Das musste ein Albtraum sein. Nichts von all dem geschah wirklich. Aber dann spürte er die Schläge, mit denen Zweige und Blätter und Erde auf ihn einprasselten. Schützend hielt er die Hände vors Gesicht. Der Donnerschlag war ohrenbetäubend.
    Die alte Sturmkellertür stand offen und wurde nur noch von einer Angel am Rahmen gehalten, an der der Wind rüttelte, um sie ganz loszureißen. Er rannte die Betonstufen hinunter und trat gegen die Kellertür. Das Holz war alt und morsch und gab nach dem dritten Tritt nach.
    Die Luft im Keller war muffig und roch nach Moder. Er konnte keinen Lichtschalter entdecken.
    Über ihm begann das alte Haus zu schwanken. Er hatte den Eindruck, als recke es sich dem Tornado entgegen, während der es aus seinem Fundament zu reißen versuchte.
    Dann setzte ein sintflutartiger Regen ein, und ohne Unterlass zuckten Blitze über den Himmel, begleitet von einem trommelnden Donner. Der Keller wurde immer wieder wie von einem Stroboskop in blendend weißes Licht getaucht. Dazwischen war es stockfinster.
    Er kauerte sich auf dem Boden zusammen – er war durchnässt und ihm war kalt und übel von dem, was er oben gesehen hatte, übel von dem Gestank im Keller.
    Er wusste nicht, wie lange er dort unten geblieben war. Es hätten genauso gut fünf Minuten wie auch fünf Stunden gewesen sein können. Die Zeit hatte jegliche Bedeutung verloren. Später erinnerte er sich nur noch, dass irgendwann alles wieder still gewesen war. So still, dass er glaubte, taub geworden zu sein.
    Noch immer erhellten vereinzelte Blitze die Nacht hinter dem hohen Kellerfenster, aber es war kein Donner mehr zu hören.
    Langsam erhob er sich von dem kalten, feuchten Boden. Etwas berührte seinen Nacken, das ihm wie eine Hand vorkam, und der Schweiß, der ihn bedeckte, gefror zu Eis. Dann tippte ihm etwas von hinten auf die Schulter, als solle er sich umdrehen, weil hinter ihm eine Überraschung auf ihn wartete.
    Direkt vor dem Fenster schlug ein Blitz ein, und die Szenerie, die er erhellte, sollte sich für immer in sein Hirn einbrennen. Eine Erinnerung, die niemals verblassen, niemals ihre Bedeutung, ihr Grauen verlieren würde: die Leichen von zwei Kindern, die von den Deckenbalken hingen und ihn mit toten Augen anstarrten.

1
    Fünfzehn Monate später
    »Er hat eine Mutter und ihre zwei Kinder abgeschlachtet.«
    Chris Logan von der Staatsanwaltschaft Hennepin County war ein Mann mit strikten Ansichten und starken Empfindungen. Beide Eigenschaften brachten ihm im Gerichtssaal vor Geschworenen viele Pluspunkte ein, im Richterzimmer dagegen weniger. Er war groß, ein athletischer Typ mit breiten Schultern und einem dichten, von silbernen Strähnen durchzogenen schwarzen Lockenkopf. Von seinen fünfundvierzig Jahren hatte Logan zwanzig der Strafverfolgung gewidmet. Es war das reinste Wunder, dass er noch nicht völlig ergraut war.
    »Entschuldigung«, sagte der Verteidiger, und sein sarkastischer Tonfall strafte den schockierten Ausdruck in seinem Gesicht Lügen. »Habe ich da etwas verpasst? Seit wann leben wir denn wieder im finstersten Mittelalter? Gilt ein Angeklagter in diesem Land denn nicht mehr so lange als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist?«
    Logan drehte die Augen zur Decke. »Scott, bitte, können Sie uns dieses Theater nicht ersparen? Wir sind doch erwachsene Menschen. Wir kennen uns. Wir wissen alle, dass Sie gern Unsinn reden. Das müssen Sie nicht mehr unter Beweis stellen.«
    »Mr. Logan …«
    Richterin Carey Moore warf ihm einen strengen Blick zu. Sie kannte Chris Logan, seit sie beide ihre ersten Erfahrungen als Pflichtverteidiger gesammelt hatten – ein Job, für den sich keiner von ihnen besonders begeistert hatte. Sie hatten beide rasch zur Staatsanwaltschaft gewechselt und sich ihre Meriten im Gerichtssaal verdient, egal ob es um eine Anklage wegen Diebstahls, um Vergewaltigung oder um Mord ging.
    Ihr gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtischs saß Kenny Scott, eines der vielen Rädchen in der Maschinerie der Pflichtverteidiger. Nachdem er einmal damit angefangen hatte, kam er nie mehr davon weg, was ihn entweder zu einem Heiligen machte, der für die Armen und Benachteiligten in der Gesellschaft um Gerechtigkeit kämpfte, oder zu dem
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