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Implantiert

Implantiert

Titel: Implantiert
Autoren: authors_sort
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manchmal leuchtete gleichzeitig eine ganze Reihe von ihnen in hellen Farben auf, und manchmal war beides der Fall. Für Colding sah alles wie buntes, digitales Erbrochenes aus.
    Die Immunreaktion war das Hindernis, das die heilige wissenschaftliche Dreifaltigkeit der Genies, die bei Genada arbeiteten – Claus Rhumkorrf, Erika Hoel und Jian –, einfach nicht überwinden konnte. Die letzte große theoretische Hürde, die Genada davon trennte, pro Jahr mehrere hunderttausend Leben zu retten. Jetzt, da Jian wach war, würde sie den Test in die Wege leiten – oder genauer gesagt: Sie würde sich auf einen neuen Misserfolg und die daraus resultierende Wut von Dr. Claus Rhumkorrf vorbereiten.
    »Brauchen Sie noch etwas?«, fragte Colding.

    Jian schüttelte den Kopf. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt bereits einem der großen Monitore. Colding wusste aus Erfahrung, dass sie wahrscheinlich auf kein einziges seiner Worte mehr reagieren würde. Ohne den Blick von den Buchstabenfolgen zu wenden, öffnete Jian unter ihrem Tisch einen kleinen Kühlschrank, der eher in das Zimmer eines Studentenwohnheims gepasst hätte, und holte eine Flasche Dr. Pepper heraus. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie die Flasche öffnete und einen tiefen Schluck nahm.
    »Nun, ich denke, ich gehe dann mal wieder ins Bett«, sagte Colding. »Rufen Sie mich, wenn Sie irgendetwas brauchen, okay?«
    Jian gab ein Grunzen von sich, doch Colding wusste nicht, ob es ihm oder einer Datensequenz galt, die sie vor sich hatte.
    Er war schon fast aus dem Zimmer, als sie sich noch einmal an ihn wandte.
    »Mister Colding?«
    Er drehte sich um. Jian deutete auf einen der Computerbildschirme.
    »Ich sehe gerade, heute ist der siebte November«, sagte sie. »Es tut mir so leid. Ich wollte, ich hätte sie gekannt.«
    Plötzlich stiegen ihm Tränen in die Augen. Er schluckte, versuchte den Kloß in seinem Hals zu lösen und biss die Zähne zusammen, wegen des Stechens in seiner Brust.
    »Danke«, sagte er.
    Jian nickte. Dann wandte sie sich wieder ihren zahlreichen Monitoren zu. Colding ging, bevor sie ihn weinen sehen konnte.
    Es war auf den Tag genau drei Jahre her, seit Clarissa gestorben war. Manchmal schien seither kaum Zeit vergangen zu sein; es war, als hätte er sie erst gestern noch geküsst.
Doch manchmal konnte er sich kaum mehr daran erinnern, wie sie ausgesehen hatte, und es war, als habe er sie in Wirklichkeit überhaupt nie gekannt. Doch immer, jede Minute jedes einzelnen Tages, hing der Schmerz ihrer Abwesenheit wie ein Mühlstein an ihm.
    Er tat, als müsse er husten, was ihm die Gelegenheit gab, sich die Augen abzuwischen, falls Gunther ihn über die Kameras im Flur beobachtete. Colding ging zu seinem Zimmer. Das Forschungsinstitut erinnerte ihn noch immer an ein Schulgebäude: in neutralem Grauton gestrichene Wände aus Leichtbausteinen, ein fleckiger Fliesenboden, Feuerlöscher samt Feuerwehräxten in jedem Korridor. Es gab sogar kleine Griffe in Schulterhöhe mit der Aufschrift »Hier ziehen«, doch die hatten nichts mit einem möglichen Feueralarm zu tun. Mit ihnen schloss man die Luftschleusen, falls es zu einer Kontamination durch Viren kommen sollte.
    Colding erreichte sein Zimmer. Er trat ein und schloss hinter sich ab. »Alles geklärt, Gun.«
    »Mir gefiel besonders die Stelle, als sie sagte, sie sei nicht dumm«, antwortete Gunther. »Die Untertreibung des Jahrhunderts.«
    »Als ob ich das nicht wüsste.«
    »Geh wieder ins Bett, Boss. Ich behalte sie im Auge.«
    Colding nickte, obwohl niemand im Zimmer war, der diese Geste hätte sehen können. Er würde unmöglich wieder einschlafen können. Nicht heute. Außerdem wurden Jians Träume immer schlimmer. Als es die letzten beiden Male so heftig geworden war, hatte sie ein paar Wochen später Halluzinationen bekommen und schließlich versucht, sich umzubringen. Bei ihrem letzten Versuch hatte sie sich in einem der Badezimmer eingeschlossen und darin Stickstoff freigesetzt. Ihr Assistent Tim Feely hatte bemerkt, was sie vorhatte, er hatte
Hilfe geholt. Colding hatte zwar keineswegs erst »in letzter Sekunde« die Tür aufgebrochen, wie das bei solchen Gelegenheiten gerne formuliert wird, aber es ging gar nicht darum, wie knapp das alles gewesen war. Das Entscheidende war das Muster: Alpträume, dann Halluzinationen, schließlich ein Selbstmordversuch. Doc Rhumkorrf hatte Jians Medikation bereits entsprechend eingestellt, aber wer konnte schon wissen, ob das immer funktionieren würde.
    Colding
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