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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Autoren: Susanne Schädlich
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Schule mehr. Auch die nächsten Tage nicht. Ich sei eine Gefahr für die anderen, hieß es. Ich wollte die Freunde noch einmal sehen. Die Mutter rief in der Schule an. Nein, das komme nicht in Frage, sagte der Direktor. Dann ging es doch. Zur Turnstunde sollte ich kommen, in den Umkleideraum, fünf Minuten vor dem Unterricht. Das sollte reichen.
    Verwunderung, als ich plötzlich dastand. Die beste Freundin fing an zu weinen. Aufgeregte Fragen von einigen. Feindseliges Schweigen von anderen. Ich verteilte mein Geld, ich brauchte es nicht mehr. Das meiste bekam die beste Freundin. Sie war die ärmste von allen, nicht nur, weil sie oft mit blauen Flecken in die Schule kam. Dafür hatten die Lehrer kein Auge. »Jetzt bin ich ganz allein«, sagte sie. Ich gab zwei Poesiealben ab, eins für die Klassenkameraden, eins für meine Lehrer, für alle die, die noch nichts hineingeschrieben hatten. Das war’s. Ich sehe noch die schwarzen Turnhosen, die sie sich anzogen, die weißen Hemden. Der Umkleideraum leerte sich. Der Unterricht ging weiter. Ohne mich.
    Ich übte nicht mehr Klarinette, wie ich es sonst jeden Nachmittag getan hatte. Ich lief allein durch die Grimmschen Straßen, wenn ich nicht mit dem Bruder die Bücherlisten schrieb. Er an der Schreibmaschine, weißes Blatt, Kohlepapier, Durchschlagpapier. Ich auf der Leiter. Regal für Regal. Tag für Tag, schweigend bis zum Buch Nr. 3541. Dann hörten wir auf und machten drei Punkte. Das war gegen die Anordnung, aber die sollten uns unsere Zeit nicht mehr stehlen.
    Großmama aus Jena kam, kaufte ein, kochte. Sie war der Felsen in der Aufregung. Das gewohnte Leben in Köpenick, im Märchenviertel, war wie durch einen Zauberspruch vorbei. Unwirklich verflog die Zeit der letzten Tage. Jeder bewegte sich wie unter einer Glocke oder wie ferngesteuert.
    Der Vater verließ früh das Haus und kam oft erst nachmittags zurück. Behördengänge. Die Mutter organisierte den Umzug vor. Ausmisten, sortieren, überlegen, bevor die Kisten geliefert wurden. Manchmal – wir fragten uns, ob sie wiederkämen – waren beide stundenlang fort.
    Abends verwandelte sich die Wohnung in normale Lebhaftigkeit, wenn die Freunde der Eltern kamen und bis in die Nacht blieben, um sich in langen Gesprächen zu verabschieden. Auch der Onkel.
    Der Kontakt war in den letzten Monaten sehr eng geworden. Er als Stütze für uns in der Aufbruchzeit und wir als Stütze für ihn, weil sie ihn, wie er glaubhaft versicherte, aus der Partei ausschließen wollten. Ständig Telefonate, viele Besuche, er kümmerte sich wie nie zuvor und erkundigte sich.
    Wenn die Freunde kamen, lagen wir längst in unseren Betten. Schlaflos ich, meinen Gedanken überlassen. Das, was ein Zuhause, eine Heimat war, würde ein Zuhause, eine Heimat nicht mehr sein. Heimat. Ich weiß nicht, wie oft und zu wie vielen Anlässen wir als Schüler singen mussten: »Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsere Heimat sind auch all die … und die Vögel in der Luft.« Ich kann es heute noch singen. »Und wir lieben die Heimat, die schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.« Was kümmerten mich Städte und Dörfer, Vögel in der Luft, die konnten fliegen, wohin immer sie wollten. Meine Heimat waren die Eltern und die Schwester, Großmama in Jena. Der Bruder, die Freunde. Dorthin gehörte ich.
    Der Bruder war gefragt worden, ob er mitkommen wolle. Er war schon siebzehn, fast erwachsen. Er hatte nein gesagt, er bliebe, bei seiner Mutter, der ersten Frau des Vaters, in der Schule, bei seinen Freunden. Es war gar keine Frage. Das sagt er heute noch.
    Ob ich auch hatte gefragt werden wollen, überlegte ich. Auch wenn ich gefragt worden wäre, es gab keine Wahl, weil die Wahl feststand, von vornherein und sowieso: Vater, Mutter, Schwester. Egal, zu welchem Buchstaben auf dem Kompass. Und die Klarinette? Drüben gab es auch Musikschulen. Und Großmama? Die konnte zu uns kommen, durfte reisen. Und die Cousins? Ich käme sie besuchen. Und die Freunde? Ich würde drüben neue finden. Als ob sie wie Pilze und Beeren in einem Märchenwald stünden.

    Irgendwann wurden Holzkisten geliefert, die in der Garage gestapelt wurden. Es gibt ein Foto: Der Vater steht vor den noch leeren Kisten, auf denen in kyrillischen Buchstaben steht »Export GDR«. Das Foto hat Roger Melis gemacht.
    Es wurden Packer geschickt. Selber packen durften wir nicht. Sie waren in allen Zimmern, sie vergriffen sich
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