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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Autoren: Susanne Schädlich
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Rotkäppchenstraße. Nicht aus Angst vor Geistern im Birkenwald. Nicht aus Angst vor dem Mörder, von dem wir Kinder uns erzählten. Erst im Herbst hatten zwei Freunde und ich auf dem Bordstein gesessen und uns ausgemalt, was tun, wenn ein Mann käme und uns Kekse anböte. Nicht annehmen natürlich. Ein Mann, der Kekse anbietet, ist ein Mörder.
    Ein Mann kam die Straße entlang. Er hatte eine Packung Kekse in der Hand, aß. Wir blickten gierig. Er bot uns welche an. Zögernd schüttelten wir die Köpfe. Der Mann zuckte mit den Schultern und warf die Packung weg. Wir blickten ihm nach. Irgendwann stand ich auf, holte sie, setzte mich wieder zu meinen Freunden. Wir aßen sie alle. Und wir warteten darauf, an einer Vergiftung zu sterben.
    Der Mann war kein Mörder.
    Und die Männer, die nachts kamen, wenn die Eltern sich mit Freunden trafen? Das geschah in jener Zeit häufiger. Es gab viel zu besprechen.
    Ich lag im Bett und wartete auf das Klingeln. Und es kam. Ich lief zum Wohnzimmerfenster, spähte aus der Dunkelheit hinunter auf die Straße. Da standen sie. Immer zu zweit. Trenchcoat und Hut. Sie klingelten noch einmal. Die Pforte war unverschlossen. Sie hätten die Klinke herunterdrücken können. Das taten sie nicht. Sie redeten. Sie sahen zu mir herauf. Lange. Ich wusste, sie wussten, dass die Schwester und ich alleine waren. Ich hielt ihren Blicken in der Dunkelheit stand. Den Eltern sagte ich nichts. Mit den Männern in Trenchcoats wurde ich alleine fertig.
    An der Ecke Rotkäppchenstraße hörte ich zu rennen auf. Langsam, als sei nichts, ging ich zum Haus Nummer 5. Ich klingelte wie immer. Ich drückte die Pforte auf wie immer. Ich stieg die Treppe hoch wie immer. Die Mutter öffnete mir die Tür. Nicht wie immer. Wir gingen in ihr Arbeitszimmer, sie sagte: »Setz dich, ich muss dir etwas sagen.« Ich setzte mich auf die weiße Liege mit der blauen Matratze. Die Mutter zog die Tür hinter sich zu: »Wir ziehen um. In den Westen, Samstag.« Sie sagte nicht, warum. Das musste sie nicht. Ich wusste, es hatte mit den Schriftstellern zu tun, die über die letzten Jahre immer wieder zu uns gekommen waren, mit dem, was ein Jahr zuvor mit der Ausbürgerung Biermanns begonnen hatte, mit dem Buch des Vaters, das erst vor ein paar Monaten im anderen Teil Deutschlands erschienen war.
    Der Westen! Meine Augen müssen geleuchtet haben. Das, was ich im Fernsehen gesehen hatte, sollte ich mit eigenen Augen sehen. Nicht warten müssen, bis ich Großmutter war. Das waren die ersten Gedanken. Dann: Was soll aus den Freunden werden? Was aus der Schule? Was mit unseren Sachen?
    Samstag, das waren nur fünf Tage. Ich muss gefragt haben, ob ich noch zur Schule dürfe? Wie lange sie es schon wüssten? Ob Jan, der Bruder, es wisse? Was mit Großmama sei? Die Mutter wird mir die Fragen beantwortet haben.
    Ich fragte noch: »Und unsere Katze?«
    »Sie kann nicht mitkommen.«
    Ich fing an zu weinen.
    »Du wirst wieder ein Kätzchen bekommen, das verspreche ich dir«, sagte die Mutter. »Wenn wir erst drüben sind.«
    Ich muss ihr geglaubt haben.
    »Jan kommt auch nicht mit.«
    Ich weinte mehr. Diesmal versprach die Mutter nichts.
    Die Tränen sollte ich mir abwischen. Lächeln, damit der Bruder nichts merke. Er sei traurig genug.
    Ich lächelte, als wir in das Arbeitszimmer des Vaters gingen, wo er dem Bruder Büchertitel in die Schreibmaschine diktierte. Es war ungewöhnlich, und doch fragte ich nicht, welchen Sinn es hatte. Das rhythmische Tippen, die sonore Stimme des Vaters beruhigten. Vielleicht verständigten sich Vater und Mutter mit einem Blick, damit die Arbeit nicht unterbrochen wurde. Sie weiß Bescheid, ich habe es ihr gesagt, der Satz in den Augen der Mutter. Vielleicht nickte der Vater, während er weiter Titel, Autor, Verlag, Erscheinungsdatum eines Buches vorlas. Der Bruder blickte nicht auf. Das weiß ich genau. Die Mutter verließ das Zimmer.
    Ich blieb vor dem Stadtplan Berlins stehen, der an einem Regal befestigt war und ein paar Reihen Bücher versteckte. Die Hälfte des Plans war ein weißer Fleck. Als ich kleiner war, hatte ich oft davor gestanden und mich gefragt, warum die Stadt dort aufhörte. Ob Schnee dort läge. Bei einem Besuch auf dem Fernsehturm suchte ich das Weiß, das ich auf der Karte gesehen hatte. Ich sah Häuser und Bäume. Das Weiß sah ich nicht. »Das da hinten ist West-Berlin«, hörte ich. »Dahin dürfen wir nicht.« Das W auf dem Kompass. Dahin würden wir jetzt gehen.

    Am Dienstag keine
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