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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Autoren: Susanne Schädlich
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mehrfachem Winken und von Edith Hübner und der alten Dame so, als sähen sie sich bald wieder.
    11.48 Uhr  Abfahrt der beiden Objekte Schädlich ohne Kinder. Aber mit schwarzer Katze mit PKW IS 98-55.
Die alte Dame geht wieder ins Haus Nr. 5, auch die Edith Hübner ist dort verblieben.
    12.30 Uhr  Abbruch der Beobachtung nach Rücksprache mit Gen. Waldow.
    SONJA«

    Nach der Lektüre bin ich auf zynische Weise beruhigt. Auf die Stasi ist Verlass, denke ich. Die Ungewissheit darüber, wie es war, weicht dem Glauben, dass es so gewesen sein muss, denn IM »Sonja«, mit Klarnamen Hannelore Hösch, die seit 1953 mit dem MfS zusammenarbeitete und ab 1977 unter anderem für die Beurteilung von Manuskripten monatlich fünfhundert Mark erhielt, war stets gewissenhaft. Für die Bobachtung von Personen eingesetzt, »im Umgang und der Handhabung offener und gedeckter fototechnischer Mittel ausgebildet«, führte sie eigenständige Ermittlungen durch, machte sogar Lagepläne, Skizzen von Wohnungen, von Nebenstraßen und Nachbarhäusern, stellte geeignete Beobachtungspunkte fest, auch vor dem Haus des Bruders in der Bogenstraße.
    Von dort sind die Eltern also nach Köpenick gefahren. Sie haben uns nachts nicht allein gelassen. Dafür aber Großmama in der Rotkäppchenstraße.
    Aber Gewissheit? Wahr ist, dass der Möbelwagen der Firma Deutrans am 10. Dezember in aller Frühe vorfuhr. Sechsundvierzig Kisten und das restliche Umzugsgut wurden unter peinlichster Kontrolle »auf den Volvo-Zug (Maschinenwagen) IC 82-02 und (Anhänger) IC 82-27 verladen. Die gesamte Ladung wurde mit vier Zollverschlüssen Z 825 versehen. […] Es wurde bemerkt, dass vor dem Nachbargrundstück (Rotkäppchenstr. 4) auf der Straße ein Herr […] längere Zeit sich mit Herrn Dr. Schädlich angeregt unterhielt und mit einem PKW Wartburg/Tourist (Farbe rot) polizeiliches Kennzeichen IZ 51-29 entfernte. Herr Schädlich machte einen ruhigen Eindruck, zeigte sich im Gespräch jedoch unkonzentriert bzw. wirkte zerfahren. A., Zollkommissar, Zollamtsleiter.«
    Die Eltern waren noch einmal zurückgefahren, weil sie sichergehen wollten, dass der Möbelwagen auch wirklich abfuhr. Danach holten sie die Schwester und mich vom Bruder ab, das Auto schon vollgepackt mit Katze, Koffern, Provianttasche.
    Der Vater: »Ich erinnere mich jetzt an folgendes. Am 10. vormittags, es war Jans Geburtstag, sein siebzehnter, waren wir in der Bogenstraße, um auf Wiedersehen zu sagen. Ich weiß noch genau, dass ich mich von Jan verabschiedet habe und er angefangen hat zu weinen. Dann ist er ins Haus gerannt.«

    Fahrt in Richtung Nordwesten, ein Ziel vor Augen, das einen kurzen Aufschub geben sollte, bevor der östliche Landesteil verlassen werden musste. Das Ziel hieß Perleberg. Dort wohnten der Bruder der Mutter, die Tante und die Cousins. Langsames Vorankommen. Das Auto, schwer beladen, kündigte durch Geräusche Hinfälligkeit an. Es nieselte. Die Schwestern schwatzhaft. Die Eltern angespannt. Die Schwestern hungrig. Die Eltern rauchend. Die Katze lugte aus der Tasche. Ablenkung auf der Rückbank, damit die Zeit vergeht, die die Schwestern nicht, wie gehofft, schlafend verbrachten. Im Gegenteil, je länger die Fahrt, desto weniger Ruhe kam auf.
    Irgendwann war die Katze unter dem Gaspedal.
    Der Vater: »Nimm die Katze weg.«
    Die Mutter: »Die muss mal pinkeln.«
    Die Schwestern lachten. Pause am Straßenrand. Die Katze wurde rausgesetzt wie ein Hund, die Katze aber hob das Bein nicht wie ein Hund, sondern sprang in den Graben in Richtung Wald. Jetzt bloß nicht noch die Katze verlieren. Die Mutter fing sie ein. Es konnte weitergehen.
    In der Dämmerung winkte die Kelle eines Polizisten. Papiere zeigen. Aussteigen. Der Vater stieg aus. Der rechte Scheinwerfer sei defekt.
    »Reparieren«, sagte der Polizist.
    »Was, jetzt, hier, vor der Ausreise?«
    »Reparieren!«
    Der Vater wusste nicht, wie. Der Polizist leuchtete mit einem Stab.
    Die Mutter wartete mit uns im Auto. Die Temperaturen sanken. Die Zeit rannte auf das Ende des Tages zu, bis 0.00 Uhr mussten wir es geschafft haben.
    Der rechte Scheinwerfer blieb dunkel in der Dunkelheit. Der Polizist gab auf, der Scheinwerfer müsse in der nächsten Stadt repariert werden. Dort wohnten der Bruder der Mutter, die Tante und die Cousins.
    Sonderbar, welche Begebenheiten klar vor Augen stehen, als wären sie erst gestern passiert. Andere wiederum sind verschollen. Ein Segen manchmal, verstörend aber, wenn man sich erinnern
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