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Im Zug (German Edition)

Im Zug (German Edition)

Titel: Im Zug (German Edition)
Autoren: Uwe Lammers
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Ein Blick auf den Chronometer würde nutzlos sein, natürlich. Denn er war sicher nach wie vor stehengeblieben (wie auch immer das möglich sein mochte!).
    Helen schaute dennoch nach.
    23.46 Uhr.
    Natürlich.
    Sie erschauerte ein wenig und schalt sich in Gedanken eine Närrin, sich von solchen Kleinigkeiten dermaßen erschrecken zu lassen. Dennoch … es blieb verstörend.
    Dort – das Waggongelenk.
    „Die 810. Hervorragend. Wenn ich also richtig gezählt habe, muss ich etwa in Waggon 800 sitzen, vorausgesetzt, die Bahngesellschaft hat die Waggons wirklich in Zählreihenfolge gehängt“, murmelte sie und eilte mit forcierter Geschwindigkeit an den stillen, verlassenen Abteilen vorbei. Inzwischen hielt Helen in diesem obskuren Zug so einiges für denkbar, und vertauschte Waggonnummern waren dabei wirklich das geringste Problem.
    Allmählich wurde indes diese Verlassenheit der Gänge wirklich unheimlich .
    Und dass der Zug noch immer mit Hochgeschwindigkeit fuhr.
    Herrgott, auf welcher Strecke mochten sie denn wohl unterwegs sein? Helen wünschte sich, mehr über das Bahnnetz des Königreichs zu wissen. Sie fuhr so selten mit der Bahn. Wenn sie aus London herauskam, dann meist mit dem Flugzeug zu internationalen Kongressen. Für London gab es Taxen und die U-Bahn, im Lande selbst reiste sie beinahe überhaupt nicht. Dafür gab es Computer, E-Mail-Verbindungen, gegebenenfalls Telefone und Briefe …
    „So, das ist die 809 …“, stellte Helen fest und verharrte auf der Hälfte des Waggons verblüfft mitten auf ihrem Marsch. Sie blickte in ein Abteil mit aufgezogenen Gardinen und einem kleinen Handkoffer in der Gepäckablage. Offensichtlich saß hier jemand, wenn auch gerade nicht am Platz. Dann war sie also doch nicht alleine im Zug …
    Ihre Gedanken verdunsteten, als sie genauer hinschaute. Ihre Augen weiteten sich, der Mund öffnete sich zu einem ungläubigen Kommentar.
    „Das ist doch …“
    Helen machte schwungvoll die Tür auf und trat mit raschem Schritt an das Fenster des Abteils. Auf dem Sitz lag die TIMES vom 28. August.
    Ihre Zeitung.
    Es war ihre eigene Zeitung. Ihr eigenes Abteil!
    Helen setzte sich. Einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen.
    Als der Moment des Schwindels vergangen war, sah sie, dass sich ihre Hände in die Zeitung verkrallt hatten, als ob sie sie zerreißen wollten. Bei der dicken Ausgabe ging das indes nicht.
    Schnaufend ließ Helen das Papier los.
    „Meine Nerven“, flüsterte sie erstickt. Ihre Stimme klang fremd wie die einer alten, völlig verängstigten Person. „Lieber Gott, meine Nerven …“
    Es war doch völlig unmöglich , was hier geschah!
    Helen Edwards zitterte wie Espenlaub und brauchte geraume Zeit – wenn es so etwas wie Zeit in diesem verrückten Zug überhaupt gab – , bis sie sich wieder ein wenig gefangen hatte. Sie war völlig durcheinander, und die Furcht ließ ihr Herz schmerzhaft bis zum Hals schlagen.
    Sie war mit Sicherheit über ZEHN Waggons in Richtung Zugende gewandert. Es war völlig ausgeschlossen , dass sie JETZT schon wieder in ihrem eigenen Abteil war.
    Völlig unmöglich!
    Und doch war es unbestreitbar der Fall.
    Irgendetwas … irgendetwas war hier auf entsetzliche Weise nicht mehr so, wie es sein sollte, das war ganz evident. Aber Helen konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was geschehen war.
    Sie blickte eine schier endlose Zeitspanne ohne klare Gedanken im Kopf aus dem Fenster und sah hier nur die dunkle Landschaft dahinrasen, gelegentlich erhellt von fernen, schmalen Straßen und Lichtpunkten von Beleuchtungen. Es sah fast aus, als näherten sie sich einer kleineren Stadt. Aber der Zug wurde und wurde nicht langsamer.
    Alle paar Momente schien er wieder über eine unebene Schwelle zu holpern. Beinahe so wie jener Ruck, der sie aus dem Schlaf geschreckt hatte. Beinahe.
    Oder war es derselbe Ruck?
    „Das gibt es nicht! Ich glaube so etwas nicht!“
    Helen sprang mehr auf, als dass sie aufstand. Sie stürzte auf den Gang hinaus und eilte ohne Überlegung weiter Richtung Lokomotive. Sie konnte nicht weiter nachdenken, wollte nicht nachdenken. Alles, was sie wollte, war eine Erklärung !
    Eine Erklärung, anderenfalls würde sie verrückt werden.
    Wenn sie es nicht schon war, wisperte eine boshafte Stimme in ihrem Unterbewusstsein …
    *
    Schon bevor Helen in den nächsten Waggon trat, merkte sie, dass etwas anders war als bisherig. Während sie die Tür aufschob, vernahm die Historikerin ein Geräusch, das sie unter
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