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Im Zug (German Edition)

Im Zug (German Edition)

Titel: Im Zug (German Edition)
Autoren: Uwe Lammers
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Tausenden wieder erkannt hätte, und es war so wohltuend , dass sie ihre Schritte noch mehr beschleunigte, um der Quelle näher zu kommen.
    Es handelte sich um ein menschliches Geräusch.
    Ein unterdrücktes, leises Schluchzen.
    Als die zitternde Historikerin aus dem Waggongelenk auf den Gang bog, sah sie auf einem der Klappsitze eine kleine, wimmernde Gestalt hocken. Sie wandte Helen den gebeugten bebenden Rücken zu und nahm nichts wahr außer ihrer eigenen Qual. Die zierliche Person trug ein schlichtes, knielanges Kleid, marineblau mit weißen Bordüren. Es besaß malvenfarbene, süße Schleifen auf den schmalen Schultern. Und die Gestalt schluchzte zum Gotterbarmen, völlig in bodenloser Verzweiflung versunken.
    Ein Kind.
    Helen blieb einen Moment lang am Eingang des Waggonkorridors stehen und ließ einfach nur den unerwarteten Anblick auf sich wirken. Einen Anblick, der jeden Gedanken, der sie eben noch hysterisch heimgesucht hatte, vollkommen verscheuchte.
    Gott, es war so wunderbar, endlich eine Menschenseele zu sehen!
    Und wenn es ein jammerndes, kleines Mädchen sein mochte.
    Dann fragte sich die Historikerin mit neu erwachender Beunruhigung, wo um alles in der Welt wohl die Mutter des Mädchens sein mochte. Es konnte doch nicht angehen, dass ein so junges Mädchen – es konnte allenfalls sieben oder acht Jahre alt sein – alleine zu so nachtschlafender Zeit in einem Zug unterwegs war.
    Ihr wurde in diesem Augenblick bewusst, dass sie offensichtlich nur ein Rätsel gegen das nächste eingetauscht hatte. Doch diesmal hatte sie zumindest jemanden, den sie fragen konnte, um es aufzulösen!
    Helen Edwards beeilte sich, leise näher an das verzweifelte Kind heranzutreten. Sie fühlte sich aus verständlichen Gründen etwas befangen, schließlich besaß sie ja selbst keine Kinder.
    Das Mädchen schluchzte noch immer, das Gesicht zwischen den dünnen Ärmchen verborgen. Eine schöne, gut frisierte, jetzt freilich etwas in Unordnung geratene Haarflut blonder Locken fiel bis auf die schmalen Schultern des Kindes herab.
    Doch, es schien wirklich ein entzückendes Mädchen zu sein. Um so unaushaltbarer war diese heftige Seelenpein. Wenn Helen irgendetwas tun konnte, um sie zu mildern, dann, so nahm sie sich vor, würde sie es tun.
    Die Historikerin ging behutsam neben dem Kind in die Hocke, fühlte sich dabei seltsam befangen und scheu, zögerte …, doch dann berührte sie das Mädchen vorsichtig an der Schulter.
    Das fremde Kind fuhr mit einem entsetzten Laut furchterfüllt hoch und starrte Helen mit verheulter, ganz fassungsloser Miene an, als sei sie gleichsam ein Geist! Nun, viel anders schien es sich ja auch nicht zu verhalten.
    Die Historikerin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dazu kam es nicht. In den feuchten, hellen Augen des Mädchens glomm bange Hoffnung auf, vielleicht gepaart mit der Erkenntnis, dass Helen keine Gefahr darstellte … und ehe Helen etwas sagen konnte, warf sich das Kind unvermittelt an ihren Hals und klammerte sich ganz an ihr fest, so energisch, als fürchte es, in einen Abgrund zu stürzen, und Helen sei der einzigmögliche Halt. Das Mädchen tat es mit der hemmungslosen, absoluten Intensität, mit der Kinder alles tun.
    Kinder, ging es Helen verrückterweise durch den Kopf, leben viel intensiver als Erwachsene, einfach, weil sie noch nicht durch das Leben abgeschliffen sind. Meistens war das wunderschön, aber wenn es sich um Verzweiflung handelte, konnten sie schrecklich anstrengend sein …
    „Komm, hab keine Angst, Kleine“, murmelte Helen gerührt, erwiderte die wilde Umarmung und umfasste das Mädchen sanft. Die unglaubliche Verzweiflung, die das Kind erfüllte, war so greifbar, dass es schmerzte.
    Helen streichelte ein wenig hilflos den jetzt unter erneuten Schluchzern bebenden schmalen Rücken und die blonde Haarflut, die auf die zierlichen Schultern fiel. Und in demselben Maße, wie sie die Kleine tröstete, spendete diese Angst und Anlehnungsbedürftigkeit des fremden Mädchens Helen ebenfalls Trost, so seltsam es auch erscheinen mochte.
    Es stimmte irgendwie schon: geteiltes Leid war offenbar halbes Leid, auch wenn noch keine Lösung für ihre Probleme in Sicht waren und wenngleich fast alles noch ein unverständlicher Wirrwarr schien, der sich erst klären konnte, wenn das Kind sich ein wenig beruhigt hatte.
    Für den Moment das ganz gleichgültig.
    Helen Edwards verlor alles Gefühl für Zeit in der Umarmung des kleinen, blonden Engels. Der warme, Kindern so
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