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Im Zug (German Edition)

Im Zug (German Edition)

Titel: Im Zug (German Edition)
Autoren: Uwe Lammers
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wieder spürte, während sie sich jetzt darauf konzentrierte. Er schien in rhythmischen Abständen immer wiederzukehren.
    Nun, Bahnschwellen, nicht wahr? Davon gab es eine Menge …
    Victoria merkte Helens kurzfristige Verunsicherung deutlich, und ihre Erzählung stockte kurz, während der Griff ihrer kleinen Hände fester wurde. Gerade so, als müsse sie sichergehen, dass Helen nicht irgendwie … na ja … ein Geist wäre oder so.
    Sie blinzelte die Historikerin aus großen, grünblauen Augen an, die wie wunderbare Juwelen wirkten. Sie war ein wirklich schönes Kind, mit ebenmäßigen Gesichtszügen, einem kleinen rosigen Mund und dem sichtbaren Keim überwältigender Schönheit. Wenn sie älter wurde, würde sich jeder Mann auf der Straße nach ihr umdrehen, gar keine Frage. Jetzt freilich waren ihre Wangen noch ein kleines bisschen zu rund, das war ein winziger Rest kleinkindlicher Speckvorräte, der während des Wachstums dahinschmelzen würde. Er machte Victoria noch reizender.
    In diesem Moment jedoch waren die schönen Augen des Mädchens mit überwältigender Sorge und einer tiefen Furcht gefüllt. Furcht um ihre Mutter, die irgendwie nicht wieder zurückgekehrt war.
    Victoria holte schniefend tief Luft und sprudelte weiter: „Aber dann war irgendwie alles anders. So komisch dämmrig  … vielleicht bin ich eingeschlafen. Aber eigentlich war ich dafür zu aufgeregt. Jedenfalls war Mum noch nicht da und das Abteil auf einmal ganz leer … und so bin ich rausgegangen, um sie zu suchen …“
    Ihre Stimme wurde wieder weinerlich, neue Tränen begannen in Victoria aufzusteigen. „ ... habe mich dann doch verlaufen … verstehe ich gar nicht …“ Und dann heulte sie wieder, drängte sich Helens warmen, erfreulich festen und fraulichen Körper, der einen guten Mutterersatz darstellte.
    Helen Edwards seufzte lautlos und drückte sich das verstörte Mädchen fürsorglich von neuem an ihre Brust, wurde wieder von den dünnen Ärmchen umfangen.
    „Komm, meine Kleine … mach dir nicht zu viele Gedanken …“, murmelte sie besänftigend. „Es wird bestimmt alles wieder gut, glaub mir …“
    „ ... Mum … muss doch irgendwo SEIN … verstehe ich nicht … sie muss doch irgendwo SEIN …!“
    ‚Ja‘, dachte Helen. Ratlosigkeit und eisige Beklommenheit hielten sich in ihrer Seele die Waage. ‚Ja, irgendwo muss sie sein. Und die anderen Menschen hier auch. Aber wo? Und wie bekommen wir das heraus?‘
    Nein, das Rätsel war nicht kleiner geworden.
    Es war größer denn je.
    Es gab eigentlich nur einen einzigen unbestreitbaren Vorteil: jetzt waren sie zu zweit.
    *
    Wenige Minuten später hatten sie nach kurzer Suche Victorias „verlorenes“ Abteil wieder gefunden. Es lag im nächsten Waggon in Richtung Lokomotive und sah im Wesentlichen so aus wie Helens eigenes Abteil auch. Im Gepäcknetz befanden sich allerdings deutlich mehr Koffer, und direkt gegenüber von Victorias Fensterplatz stand ein niedlicher kleiner Reisekoffer aus dunkelblauem Samt, der schön zu ihrem Kleid passte. Einwandfrei Victorias eigenes Gepäckstück.
    Ehe die Historikerin recht begriff, was eigentlich geschah, öffnete das Mädchen den Koffer und meinte, Helen mit offensichtlicher Freude anstrahlend, beinahe fröhlich: „Also, ich glaube, ich zeige dir erst mal, was ich so dabei habe. Mum meint immer, vor Freunden sollte man keine Geheimnisse haben. Und du bist doch meine Freundin, oder, Helen?“
    „Natürlich“, versicherte sie überrumpelt. „Sicher doch.“
    Sie dachte zwar wieder einmal an Maggie, an Oxford, daran, dass sie eigentlich längst angekommen sein mussten … aber ein Blick aus dem Fenster zeigte deutlich, dass sie noch immer durch die finstere Nacht jagten, ohne Unterlass, ohne Ziel …
    Der Gedanke an die Rückkehr in ihr Abteil, wo das Handy wartete – ein Handy, das womöglich nicht funktionieren würde – , jagte Helen Edwards eine ganze Ladung Eiswürfel über den Rücken. Sie schüttelte sich, und das Mädchen sah es nur deshalb nicht, weil Victoria sich nun wieder ganz dem Koffer zugewandt hatte.
    Oh Gott, es war wirklich besser, nicht daran denken, in welcher Situation sie sich hier befanden! Wenn sie wieder darüber nachgrübelte, kehrte die Hysterie sicherlich in alter Stärke zurück.
    Dann schien es doch besser zu sein, sich ein wenig abzulenken. Auch, weil das Victoria selbst ablenken würde, und das Kind schien Seelenberuhigung weit mehr zu benötigen als Helen selbst!
    So ließ
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