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Im Zug (German Edition)

Im Zug (German Edition)

Titel: Im Zug (German Edition)
Autoren: Uwe Lammers
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Aufenthalte an Haltestellen aufzubrauchen, so dass Helen Edwards ganz außer Atem gewesen war, als sie endlich den Zug erreichte.
    Kein Wunder, dass sie sich da keine Gedanken machte über die Position des Waggons innerhalb der Reihe. Geschweige denn über die Länge des Zuges. Warum auch? Hauptsache, sie konnte sich behaglich zurücklehnen und die Reise entspannt hinter sich bringen. Alle Last des Alltags war in dem Augenblick von ihr abgefallen, da Helen die Zugabteiltür hinter sich schloss, und völlige Entspannung hatte sich in ihr ausgebreitet. Danach musste sie eingedöst sein.
    Und das hatte sie jetzt davon!
    „ Viel zu selbstsicher“, murmelte sie erneut und schüttelte missmutig den Kopf.
    Auf der anderen Seite: woher hätte sie denn wissen sollen, dass alles diesmal so schief ging? Solche Missgeschicke passierten doch immer nur den anderen , nicht wahr? Niemand ging mit der Vorahnung von sich häufenden Katastrophen wie diesen auf Reisen, und schließlich war ja auch noch nie ein solches Malheur passiert …
    Helen durchquerte das nächste Zuggelenk und kam in den neunten Waggon. Auch er sah exakt aus wie die vorangegangenen. Sogar in den gleichen Abteilen schienen die Vorhänge zugezogen zu sein. Und keine Menschenseele zu sehen.
    Gott, dieser ganze Zug war ja so etwas von leer  … unglaublich.
    Fuhren die Leute denn alle tagsüber nach Oxford? Gab es keine Pendler, die spätabends wieder zurückkehrten? Keine Urlauber? Nichts?
    So leer hatte Helen diesen Zug noch nie erlebt, erinnerte sie sich auf einmal, und je länger sie durch die uniformen Gänge der Waggons eilte, desto verstörter wurde sie. Der zehnte Waggon. Der elfte. Der zwölfte. Hörte dieser Zug denn überhaupt nicht mehr auf?
    Das war ja nicht normal .
    Draußen raste die nächtliche Welt vorbei, nur dann und wann von einigen Straßenbeleuchtungen erhellt, aber zu gering, als dass Helen irgendwelche Details hätte erkennen können. Der Boden bebte, wenn der Zug rhythmisch über irgendwelche Schwellen hinwegholperte. Fast konnte man eine bizarre Art von Takt herauslauschen …
    Das war natürlich alles Einbildung.
    *
    Schließlich blieb die blonde Historikerin schnaufend wieder auf einem Gang stehen und blickte auf die Uhr, einfach, weil sie wissen wollte, wie lange sie nun schon unterwegs war. Sie fühlte Schweiß auf der Stirn stehen, und alles in allem war ihr sehr unbehaglich.
    Es kam Helen irgendwie so vor, als seien Stunden vergangen. Das konnte natürlich nicht sein – keine Zugstrecke zwischen Oxford und London war so lang, dass man auf ihr dermaßen lange mit Hochgeschwindigkeit fahren konnte. Sie hätte außerdem gewiss irgendwelche Ortschaften erkannt, durch die sie gekommen …
    Ihre Gedanken versiegten, während sie das schimmernde Rund der Uhr anstarrte.
    Das Ziffernblatt zeigte 23.46 Uhr.
    Helen fühlte, wie ihre Beine weich wurden.
    Rasch klappte sie einen der Gangsitze auf und ließ sich darauf nieder. Schloss die Augen und drückte den Kopf gegen die zitternde, von der schnellen Fahrt vibrierende Wand. Atmete keuchend ein paar Male, bis das jähe Schwindelgefühl und das erniedrigende, haltlose Zittern wieder verschwand, das sie überfallen hatte.
    „Mein Gott“, murmelte sie hilflos.
    Sie begann mit einem Anflug echter Panik zu verstehen, dass hier irgendetwas überhaupt nicht normal war. Dass etwas geschehen sein musste, das ihre Vorstellung von Normalität völlig auf den Kopf stellte. Und Helen Edward konnte sich nicht im Traum vorstellen, was das sein mochte. Alles ließ sich mit Rationalität und Logik erklären, nicht wahr? Sie war eine durch und durch rationale moderne Frau, die auf dem Boden der Tatsachen stand, und übernatürliche Dinge waren ebenso wie die flüchtigen Gespinste der Träume etwas, was keine Substanz besaß. Was einfach nicht VORKAM!
    Diese sonst so sicheren Gedanken besaßen für Helen Edwards nur eine höchst klägliche Trostwirkung. Sie verpufften irgendwie vollständig. Die Situation war und blieb beängstigend und unerklärlich.
    Das alles war irgendwie so … so … irrational! Unlogisch!
    Es konnte nicht sein!
    Es durfte nicht sein!
    Beruhigend raste der Zug mit seiner immer gleich bleibend hohen Geschwindigkeit durch die Nacht, die nicht enden wollte, einem Ziel entgegen, das Helen nicht kannte und das auch nicht näher zu kommen schien.
    Was auch immer der Zug jetzt für ein Ziel haben mochte – Oxford würde es gewiss nicht sein.
    Sie entsann sich verwirrenderweise der Worte
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