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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs
Autoren: Mark Frost
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weißt du noch, wie du dich in Mühen und Entbehrungen mit dem Versprechen aufrechtgehalten hast, daß du dich nach deiner Pensionierung der Gelehrsamkeit widmen würdest? Frei von häuslichen Ablenkungen und beruflichen Verpflichtungen, allein in deiner Bibliothek, wo die im Laufe eines Lebens angesammelte Weisheit die Winde säumt; Ruhe und Frieden und endlose Monate der metaphysischen Studien und einsamen Betrachtungen: die folgerichtige und zufriedenstellende Krönung eines Arbeitslebens. Eine so freudvolle Zeit sollte es werden! Und dazu die echte Möglichkeit der Erleuchtung in Reichweite.
    Aber anstatt von Büchern umgeben an deinem Schreibtisch im behaglichen Kellerbüro in der Delancey Street zu sitzen, eine Tasse heißen Tee mit Zitrone in den Händen, stehst du hier im strömenden Regen auf einem Bahnsteig im Zentrum von Chicago, Illinois, und wartest auf den Zug nach – wohin? – nach Colorado, Gott behüte, wo du keine Menschenseele kennst. Und wann sie in Colorado zuletzt einen Rabbi gesehen haben, möchte ich wohl auch gern wissen.
    Weil es dir im Traum befohlen wurde.
    Also schön, kein Traum, genaugenommen: eine Vision, wenn du so willst, die seit drei Monaten durch deinen Schlaf spukt. Eine Vision, die so machtvoll und beängstigend ist, daß du aus deinem Kaninchenbau in die Wildnis hinaussaust wie ein verrückter Prophet aus der Bibel. Einer von diesen alttestamentarischen, knochenklappernden Alpträumen, von denen du mit soviel Interesse gelesen hast. In deinem behaglichen Sessel. Mit warmen, trockenen Socken an den Füßen.
    Meschuggener Mamser! Du brauchst keine einfache Fahrkarte in den Wilden Westen; was du brauchst, ist ein Arzt: Vielleicht ist es ein Anfall von exotischem Fieber oder eine galoppierende Geisteskrankheit. Zeit ist noch: Du könntest wieder in New York sein, ohne irgend jemandem ein Wort von diesem Irrsinn zu erzählen, ehe dein Sohn vom Schiff kommt. Und höre, Jacob: Hast du eine Ahnung, wie beunruhigt Lionel sein wird, wenn er mit dem Buch ankommt, das er dir unter soviel Mühen beschafft hat, und du dich derweilen in Luft aufgelöst hast? In zwei Stunden fährt ein Zug nach New York; was um Himmels willen sollte dich daran hindern, ihn zu besteigen?
    Du weißt sehr wohl, was dich daran hindert, mein Alter.
    Nachdem du dein Leben dem Studium der Mythen und Allegorien der Kabbala gewidmet hast, weißt du auch, daß sie mehr sind als Wörter auf alten Pergamenten, durch die Zeitläufe auf uns herabgekommen. Du weißt, diese Erde ist ein Schlachtfeld für den Kampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis, und wenn du gerufen wirst, in diesem Kampf deinen Dienst zu tun – und im Grunde deines Herzens weißt du, dies ist es, was hier geschehen ist –, dann windest du dich nicht vom Haken, indem du eine Liste von Gebrechen rezitierst … obgleich du, weiß der Himmel, mit deiner Neuralgie und deiner Arthritis und allem, was dazwischen ist, ein überzeugendes Plädoyer liefern könntest.
    Was haben die Rabbiner dir gesagt, als du mit dem Studium der Kabbala anfingst? Nur ein Mann, der verheiratet ist und der mit beiden Beinen fest auf der Erde stehend das Alter von vierzig Jahren erreicht hat, sollte dieses seltsame Buch studieren. Was sich zwischen diesen Deckeln verbirgt, ist viel zu gefährlich für einen Dilettanten. Wissen ist Macht, und esoterische Bücher sind wie Dynamitstangen, haben sie gesagt; es muß ein Mann von ganz besonderer Art sein, der sich darauf einläßt.
    »Ich bin dieser Mann«, hast du zu ihnen gesagt.
    Aber was war da in dich gefahren? Wenn es Wissensdurst war, so gab es Hunderte von weniger gefährlichen Quellen zum Trinken. Und achtundzwanzig Jahre später stehst du hier und wartest auf einen Zug. Rätselhaft, nicht wahr?
    Sei ehrlich zu dir selbst, mein Alter: Ein Teil von dir wußte in dem Augenblick, als du das Buch aufschlugst – das authentische Seferha-Sohar –, daß dir als Folge davon eines Tages etwas Außergewöhnliches widerfahren würde. Du hast es gewollt. Also, was hast du dich eigentlich zu beschweren? Was ist überhaupt so kostbar an diesem Leben, das du da führst? Deine Frau ist seit sechs Jahren dahin, möge sie ruhen in Frieden, und dein Sohn ist erwachsen. Und dein Büro, Jacob, dort in dem Keller in der Delancey Street?
    Nicht ganz das Refugium das du dir immer vorgestellt hast. Es ist langweilig. So, jetzt hast du es gesagt.
    Du wirst in diesen Zug nach Colorado steigen, Rabbi Stern, und diese Reise – der
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