Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs
Autoren: Mark Frost
Vom Netzwerk:
brauchen einen Titel für dieses prächtige Werk; meinst du nicht auch, Nachbar?« sagte der Prediger, dann schnalzte er mit den Fingern. »Ich hab’s: Wüsten-Stilleben.«
    Ein feuchtes Lachen blubberte über seine Lippen. Seine Hand schloß sich um das dicke Banknotenbündel des Spielers in seiner Tasche, und Freude flutete über ihn hinweg wie warmes Meerwasser.
    Ja. Das ist besser, als am Straßenrand aufzuwachen, zitternd vor Kälte, ohne Namen, unfähig zum Sprechen, ohne Vergangenheit oder Zukunft, ein dummes Tier, gefangen in einer Spalte der Zeit. Auferstanden. Wiedergeboren in Seinem Bilde. Gekommen, das Wort zu verbreiten und das Heilige Werk zu beginnen.
    Es gibt so viel mehr … Erfüllung.
    Der Prediger hob dramatisch die Hände, ein Dirigent, der sein Orchester befehligte. Die Instrumente reagierten: Schwänze hoben sich, Beißwerkzeuge öffneten sich, Giftzähne starrten.
    Der Spieler fühlte die Veränderung ringsumher, und was noch übrig war von seinem Verstand, flüchtete wie ein Dieb in der Nacht.
    Jetzt.
    Nach der Entladung löste das Stilleben sich augenblicklich in seine Bestandteile auf, die zurückhuschten in die Wüste, besinnungslos, vereinzelt und furchtsam wie zuvor.
    Der Prediger versuchte, sich ein paar angemessene Sätze zu überlegen, die über dem Leichnam des Spielers zu sprechen wären, aber er verlor das Interesse, als sein Blick an dem Toten vorbei zu dem Kuhkaff in der Ferne wanderte, dessen Gebäude sich schwarz von dem rotorangefarbenen Horizont abhoben: In dem Fenster über dem Saloon, wo sie Poker gespielt hatten, glomm eine Lampe auf.
    Wie nennt sich diese Gegend gleich wieder?
    Texas.
    Eine gottverlassene Provinzwildnis, dieser amerikanische Westen; keine Kultur, weder Theater noch Kaffeehäuser. Was für eine Verschwendung von erstklassigem Grund und Boden.
    Andererseits sind die Leute um soviel leichter zu beeindrucken.
    Der Prediger warf eine Handvoll Erde auf den aufgedunsenen, verfärbten Leichnam, machte auf dem Absatz kehrt und humpelte, sein steifes Bein nachziehend, mit klirrenden Sporen in Richtung Stadt.
    Ich werde die Bibel lesen müssen, erkannte er. Das ist das Allermindeste, was diese Bauerntrottel von mir erwarten werden.

BUCH EINS
 
Die Elbe

1
     
    19. SEPTEMBER 1894 23 UHR
    Was für eine verwünschte Plage dieser ganze Holmes-Firlefanz doch geworden ist. Daß eine solche Null von einem Mann, eine wandelnde, sprechende Rechenmaschine, die so viel Menschliches ausstrahlt wie ein Steckenpferd, im Busen der lesenden Öffentlichkeit solche Leidenschaft hat entfachen können, ist mir ein größeres Rätsel als alle diejenigen, die ich mir je für ihn ausgedacht habe.
    Selbst da ich diese Eintragung hier niederschreibe, beherrschte auch heute abend im Garrick Club – wo mein Abschiedsdinner stattfand – Sherlocks vorzeitiger Tod die Konversation mit all der bäurischen und voreingenommenen Sturheit eines Amerikaners, der für ein öffentliches Amt kandidiert. Erdacht in einem Augenblick, da meine einzige Sorge darin bestand, für meine Familie das Essen auf den Tisch zu bringen, hat dieser Holmunculus, diese Gehirnmarionette, bei einigen meiner Leser einen Platz in ihrem Leben eingenommen, an dem er ihnen wirklicher erscheint als ihre eigenen Freunde und Verwandten. Erschreckend – aber wenn Der da oben es bei allen Seinen göttlichen Schöpfungen nur auf Berechenbarkeit angelegt hätte, dann hätte er wohl Feierabend gemacht, nachdem er den Himalaya errichtet hatte.
    Wie naiv war ich, mir einzubilden, ich brauchte den alten Holmesy nur in die Reichenbach-Fälle zu kippen, und schon hätte der Trubel ein Ende und ich könnte mich meiner seriösen Arbeit widmen. Fast ein fahr ist es jetzt her, daß »Schieres Glück« Holmes seinen Kopfsprung machte, und die öffentliche Empörung über sein Hinscheiden zeigt keinerlei Anzeichen des Erlahmens; ja, ein paarmal ist es sogar vorgekommen, daß ich berechtigte Sorge um mein physisches Wohlergehen haben mußte. Diese stämmige Frau mit dem roten Gesicht auf einer Landstraße bei Leeds, die ihren Regenschirm zückte. Eine Vogelscheuche von einem Mann mit echter Verstörung im Blick, der meine Kutsche durch die Stadt verfolgte. Der zitternde, hohläugige Junge, der mich am Grosvenor Square ansprach, derart stammelnd von einem Überschuß an mühsam im Zaum gehaltener Gewalttätigkeit, daß man befürchten mußte, sein Kopf werde explodieren, ehe er einen Satz ausgespuckt hätte. Wahnsinn!
    Was mich an den Rand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher