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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Versteckspiel ein. Eines, das nicht zu Ende gegangen war. Im Wald des Schweigens ...
    Tatsächlich war nichts dergleichen geschehen, aber in ihrer Erinnerung hatte sie, Jeanne, damit angefangen. Sie zählte, die Hände vor den Augen und die Stirn an einen Baumstamm gelehnt. Und sie sah die Ereignisse noch einmal vor ihrem inneren Auge, während ihre Stimme flüsternd skandierte:
    1, 2, 3 ...
    Eines Abends war die damals siebzehnjährige Marie nicht nach Hause gekommen. Ihre Mutter, die die beiden Mädchen allein großzog, war beunruhigt und hatte Freundinnen ihrer Tochter angerufen. Niemand hatte sie gesehen. Niemand wusste, wo sie war. Jeanne war im monotonen Rhythmus dieser Telefonate eingeschlafen. Um die Angst zu vertreiben, zählte sie mit leiser Stimme. 10, 11, 12 ... Sie war acht Jahre alt. Ihre Schwester hatte sich versteckt. Es war ein Spiel, mehr nicht.
    Am nächsten Morgen waren Männer gekommen. Sie hatten vom Bahnhof von Courbevoie gesprochen, von einer Tiefgarage. Marie war in dieser Schattenzone gefunden worden. Die Polizisten glaubten, die Leiche sei am frühen Morgen dort abgelegt worden, nachdem das Mädchen an einem anderen Ort ermordet wurde ... Jeanne hörte nichts mehr. Weder die Schreie ihrer Mutter noch die Worte der Polizisten. Sie zählte lauter. 20, 21, 22 ... Das Spiel ging weiter. Sie musste nur die Augen geschlossen halten. Wenn sie sie öffnete, würde sie ihre Schwester wiedersehen.
    Sie hatte sie drei Tage später auf dem Kommissariat wiedergesehen. Ihre Mutter war ohnmächtig geworden. Die Polizisten hatten sich um sie gekümmert. Jeanne hatte heimlich die Akte aufgeschlagen. Die Fotos von der Leiche: der Körper, verdeckt vom Geländer, Arme und Beine verkehrt herum, aufgeschlitzter Bauch mit heraushängenden Eingeweiden, weiße Socken, Ballerinaschuhe für kleine Kinder, Reifen.
    Jeanne hatte die Szene nicht vollständig in sich aufgenommen. Die Körnung der Abzüge. Schwarz-weiß. Die blonde Perücke, die das Gesicht ihrer Schwester bedeckte. Aber sie hatte den Bericht gelesen. Dort stand, Marie sei erdrosselt worden – sie wusste nicht, was das bedeutete. Sie sei entkleidet worden. Sie sei aufgeschlitzt worden – noch so ein unbekanntes Wort. Die Arme und die Beine seien ihr abgetrennt worden, dann seien sie verkehrt herum angesetzt worden – die Beine am Schultergelenk und die Arme an der Basis des Rumpfes. Es stand auch da, der Mörder habe eine »makabre Inszenierung« vorgenommen. Aber was sollte das heißen?
    31, 32, 33 ... All dies war unmöglich . Jeanne würde die Augen öffnen. Sie würde die Rinde des Baumes erblicken. Sich umdrehen und in den Wald des Schweigens eintauchen. Marie wäre da, irgendwo, im Unterholz. Sie musste weiterzählen. Die Zahlen respektieren. Ihr die Zeit lassen, um sich zu verstecken. Desto mehr Spaß würde es machen, sie aufzustöbern ...
    Dann fand die Beerdigung statt. Jeanne hatte sie wie in Trance erlebt. Die Besuche der Polizisten, die dreinblickten wie geschlagene Hunde, ihr Ledergeruch, ihre hohl klingenden Phrasen. Dann der Absturz ihrer Mutter. Ein Jahr später, in der langsamen, kraftlosen Redeweise, die für unheilbar Suchtkranke typisch ist, hatte sie ihr gestanden, dass sie immer ihre Lieblingstochter gewesen war. Du bist dem Chaos entsprungen, und aus diesem Grund habe ich dich immer lieber gehabt ...
    Jeanne und Marie hatten nicht denselben Vater. Maries Vater hatte sich aus dem Staub gemacht; nie wurde über ihn geredet. Jeannes Vater hatte sich ebenfalls davongemacht; auch ihn umgab eine undurchdringliche Mauer des Schweigens. Das Einzige, was von ihm zurückblieb, war sein Name: Korowa. Viele Jahre später hatte Jeanne ihre Mutter über ihren Vater ausgefragt. Er sei Pole gewesen, sagte sie. Ein Drogensüchtiger, der sich als Filmemacher ausgab und erzählte, er sei Mitglied der Schule von Łód ź gewesen, der auch Roman Pola ń ski, Jerzy Skolimowski, Andrzej Zuławski angehörten ... Ein echter Frauenheld mit einer großen Klappe. Ende der siebziger Jahre sei der Mann in seine Heimat zurückgekehrt. Sie habe nie wieder von ihm gehört ...
    Jeanne war die Frucht eines Hippie-Unfalls, wie er in den Seventies häufig vorkam. Zwei Drogenvögel waren sich bei LSD oder einem Heroin-Schuss nähergekommen und hatten miteinander geschlafen. Jeanne war gewissermaßen das Nebenprodukt dieses Trips gewesen. Dennoch war sie laut Aussage der Mutter immer ihr Liebling gewesen. Und das wurde ihr jetzt zum Verhängnis. Denn Marie war tot,
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