Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Visier des Verlangens

Im Visier des Verlangens

Titel: Im Visier des Verlangens
Autoren: Courtney Milan
Vom Netzwerk:
dass sie die Hufeisen aufblitzen sah. Gelähmt wie ein geducktes Kaninchen im Gras, auf das sich ein Habicht aus den Lüften stürzte, stand sie an die Mauer gepresst da. Ihr Verstand arbeitete unendlich träge. Sie hätte die Rippen des Gauls zählen können, jeden einzelnen Bogen, während die mächtigen Hufe herniedersausten.
    Und dann war der Moment der Lähmung vorbei, ihr Überlebenswille siegte.
    Sie sackte zusammengekrümmt zu Boden, eine Sekunde, ehe die Hufe gegen die bröckelnde Mauer schlugen, wo eben noch ihr Kopf gewesen war. Beim ersten Mal regneten Gesteinssplitter und Sand auf sie herab. Beim zweiten Mal wurde sie von einem Stein an der Wange getroffen. Der Gaul stieß wieder dieses gespenstische Wiehern aus und stieg ein drittes Mal.
    Bevor die Hufe diesmal aufschlugen, wurde sie gewaltsam an den Armen hochgerissen und an einen kraftvollen Männerkörper gepresst, der sie vor den Eisen des tobenden Zugpferdes schützte. Der Reiter der grauen Stute war ihr offensichtlich zu Hilfe geeilt.
    Sie hatte keine Chance, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, selbst wenn sie den Wunsch dazu verspürt hätte. Von kraftvollen Händen mit eisernem Griff um die Mitte gepackt, wurde sie zur flachen Mauerbegrenzung gehoben, an der sie sich hochzog, bis sie auf der Mauer kauerte. Der Reiter schaute zu ihr auf. Seine Augen, dunkelbraun wie Moorseen im bärtigen Gesicht, blitzten verwegen, als sei dies das aufregendste Abenteuer, das er seit Jahren erlebt hatte. Einen flüchtigen Moment hatte sie das schwindelerregende Gefühl einer Erinnerung.
    Ich kenne diesen Mann.
    Doch dann wandte er sich ab, und die flüchtige Erinnerung verwehte, rieselte ihr durch die Finger wie die Sandkörner der Mauer, an der sie sich festkrallte.
    Wer immer dieser Fremde sein mochte, er kannte keine Angst. Vielmehr wandte er sich dem schäumenden Gaul zu, bewegte sich behutsam wie auf Zehenspitzen, wich in tänzerischer Anmut den tödlichen Hufschlägen aus.
    „Nun komm schon, Champion.“ Seine Stimme klang leise, aber bestimmt. „Ich will dir nicht zu nahe kommen, aber wenn ich die Zugriemen nicht durchschneide, beruhigst du dich nie.“
    „Die Zugriemen durchschneiden!“, protestierte der Fuhrmannund hob die Peitsche. „Was, zum Teufel, soll das heißen, die Zugriemen durchschneiden?“
    Der Fremde schenkte ihm keine Beachtung, machte eine halbe Drehung und trat hinter das Pferd.
    Das Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzogen, umklammerte der Fuhrmann die Griffe seiner Peitsche. „Was fällt Ihnen ein?“
    Der Gentleman drehte dem zornigen Fuhrmann den Rücken zu, während er unablässig leise redete, nein murmelte. Kate konnte nicht verstehen, was er sagte, hörte nur seinen beruhigenden Tonfall. Der Gaul stieg ein letztes Mal, dann tänzelte er nervös, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, um den Mann hinter ihm im Auge zu behalten. Ein Schnitt mit dem Messer, dann ein zweiter, ein paar Handgriffe an den Schlaufen, und das Pferd war vom Geschirr befreit.
    „Was tun Sie da, verdammt? Der Gaul gehört mir! Sie haben kein Recht, die Riemen durchzuschneiden!“
    Das Pferd wollte losstürmen, kam jedoch nicht weit, da der Kutscher die Zügel immer noch in den Fäusten hielt. Befreit vom schwer beladenen Karren und vor allem außer Reichweite der gnadenlosen Peitsche, erlahmten die Fluchtversuche bald; das Tier stampfte noch ein paar Mal auf, bevor es schnaubend den Kopf senkte und seine Umgebung beäugte.
    „Siehst du?“, sagte der Fremde. „Schon besser, wie?“
    Und alles schien tatsächlich besser zu werden. Kates Herzklopfen beruhigte sich, der Gaul stampfte nicht länger mit den Hufen in den Straßenmatsch, und der Fuhrmann hörte auf, den Griff seiner Peitsche gegen seine Stiefel zu schlagen. Kate krallte die Finger um das feucht bemooste Mauerwerk.
    „Ihr feinen Leute seid alle gleich. Ihr verhätschelt die Biester“, knurrte der Fuhrmann verärgert. „Blödes Vieh.“
    Die letzten Worte waren an den Gaul gerichtet, der immer noch zitternd mit flach angelegten Ohren am gesenkten Schädel schnaubend dastand. Der bärtige Gentleman – der kultivierten Sprache und dem eleganten Schnitt seines Mantelsnach zu schließen tatsächlich ein Aristokrat – nahm endlich Notiz von dem Fuhrmann, trat an den Kutschbock und nahm ihm kurzerhand die Zügel aus der Hand, was der völlig verdutzte Mann widerspruchslos geschehen ließ.
    „Verhätscheln nennen Sie das also“, sagte der Fremde höflich. „Ich halte nichts von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher