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Im Visier des Verlangens

Im Visier des Verlangens

Titel: Im Visier des Verlangens
Autoren: Courtney Milan
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wusste, dass es immer noch Momente gab, in denen es ihn drängte, sich körperlich zu verausgaben, um sein inneres Gleichgewicht nicht zu verlieren. Den Januar über, im dunkelsten Monat des Jahres, hatte sie erst wirklich verstanden, was er mit seiner Beschreibung der lähmenden Düsternis meinte, die gelegentlich von ihm Besitz ergriff. Aber mittlerweile wussten beide, dass er seine Schwermut in den Griff bekam und dass diese Zustände vorübergingen.
    „Ich denke“, sagte Ned leise, „ich bin an einem Punkt angekommen, wo ich genügend Vertrauen zu mir habe und mirnichts mehr beweisen muss. Ich habe nicht länger das Bedürfnis, mich jeder Herausforderung zu stellen.“
    „Tatsächlich?“ Kate gestattete sich ein verschmitztes Schmunzeln, wartete jedoch, bis sie den Weg und damit festeren Boden unter den Füßen hatten, ehe sie hinzufügte: „Das ist aber jammerschade.“
    „Wieso? Willst du mich etwa wieder loswerden?“, fragte er scherzhaft. „Willst du mich wieder nach China schicken? Oder nach Indien?“
    „Aber nein. Das käme mir ausgesprochen ungelegen. Ich denke nämlich, dass ich dir in, sagen wir mal, sieben Monaten, eine andere lohnende Herausforderung präsentieren kann. Und ich hoffe, du freust dich darauf.“
    Ned stutzte, dann fuhr er zu ihr herum. Ein träges Lächeln umspielte seine Lippen. „Verstehe“, sagte er beinahe scheu, mehr nicht. Ihre Hand lag in seiner Armbeuge, und sie spürte das leise Zittern, das ihn durchlief. Vermutlich kämpfte er mit ähnlich widersprüchlichen Empfindungen wie sie, als sie die Gewissheit hatte, ein Kind zu erwarten. Angst, Bestürzung, Jubel und dazwischen die stummen Schreie: „Es ist zu früh!“ und: „Höchste Zeit!“
    Ned hielt den Blick in die Ferne gerichtet und räusperte sich, ehe er sich ihr wieder zuwandte. „Wir sollten sie Iphigenie nennen.“
    „Findest du das nicht eine Spur zu hochgestochen?“
    „Iphigenie“, wiederholte er, als sei der Name das Alltäglichste von der Welt. „Als Kurzform könnten wir sie Figgy rufen.“
    Kate prustete vor Lachen und war froh, dass er es nicht ernst meinte. „Sie würde uns ihr Leben lang dafür hassen.“
    „Hm. Du bist es doch, die darauf besteht, uns das Leben schwer zu machen. Es wäre immerhin ein guter Anfang, dafür zu sorgen, dass unsere Tochter ihren Namen nicht buchstabieren kann.“
    „Ned, wenn du unsere Tochter Iphigenie nennst, dann werde ich … ich …“
    „Du, meine Liebste“, versicherte Ned mit belustigt funkelnden Augen, „wirst sie trotzdem abgöttisch lieben. Aber vielleicht hast du recht. Wie findest du Hatschepsut?“
    „Hatschepwas?“
    „Eine altägyptische Pharaonin. Und Ägypten ist momentan die große Mode. Nein?“
    „Ein entschiedenes Nein.“ Kate strahlte ihn an. „Versuch es noch mal.“
    „Vertiline? Permelia?“
    „Woher hast du nur all diese absurden Namen? Fällt dir nichts Schlichteres ein?“
    „Ich weiß. Obraya.“ „Das ist kein Name.“
    Er ließ die Augenbrauen tanzen. „Woher willst du das wissen?“
    „Esel.“
    Er zog die Stirn in Falten. „Hm, der ist wenigstens kurz. Aber hat das nicht einen Beigeschmack? Ich finde ihn ein wenig abwertend.“
    Kate lachte schallend. „Hör auf, hör bitte damit auf!“ Als sie endlich wieder zu Atem kam, schüttelte sie den Kopf. „Was gefällt dir nicht am Namen deiner Mutter? Hast du Einwände gegen Lily?“
    Er legte den Kopf schräg. „Eigentlich nicht. Siehst du, deswegen liebe ich dich. Immer praktisch.“ Er schlang die Arme um sie.
    Nein. Nicht immer. Nicht, wenn er sie so zärtlich an sich drückte und ihr einen sanften Kuss an die Wange hauchte und einen zweiten auf ihren Mund.
    „Und wenn es ein Junge wird?“
    Er drückte ihr einen dritten Kuss auf die Stirn. „Dann, Liebste, würde er es wirklich verabscheuenswert finden, Lily genannt zu werden.“
    – ENDE –

ANMERKUNG DER AUTORIN
    Kates erste Gerichtsverhandlung findet ohne Anhörung vor Geschworenen statt. Im Jahr 1842 wäre eine solche Anhörung erforderlich gewesen. Um meine Leser nicht mit einer Schilderung dieses langwierigen Verfahrens zu ermüden, gestattete ich mir die Freiheit einer kleinen Zeitverschiebung. Erst 1849 wurde ein Gesetz erlassen, das einem Bezirksrichter gestattete, einen Prozess ohne Jury zu verhandeln.
    Allerdings wurden auch im frühen viktorianischen England Schnellverfahren (d. h. Verfahren ohne Geschworene) unter gewissen Voraussetzungen (Bagatelldelikte) von Bezirksgerichten abgehandelt.
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