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Im Visier des Todes

Im Visier des Todes

Titel: Im Visier des Todes
Autoren: O Krouk
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ablenken kann.«
    Vogelfedern. Silvester. Das Haus war nach langen Monaten zum ersten Mal wieder geöffnet worden. Sie hatte in der Küche, auf der Fensterbank, eine tote Meise gefunden.
    Thessa redete. Ihre Stimme hatte etwas von einem Bergquell, der unter einer dünnen Eisschicht weiter und weiter sprudelte. Inzwischen fuhren sie eine Waldstraße entlang. Leah hielt nach einer Einfahrt Ausschau, und schließlich rüttelte sie an Thessas Schulter, als sie einen schmalen Weg, der nur aus zwei Fahrrinnen zu bestehen schien, entdeckte. »Stell das Auto irgendwo ab. Wir gehen den Rest zu Fuß.«
    Thessa fuhr ein Stück weiter und parkte den Fiat unter den Bäumen. Leah öffnete die Tür, setzte die Füße auf den Boden und schlitterte in den Straßengraben. Der Wagen stand so schief,dass er beim leisesten Regen sicherlich weggespült werden würde. Wie ein Papierschiffchen, bye-bye, alter Freund. Bye-bye.
    Leah kam hoch, steuerte die Einfahrt an und duckte sich unter der Stahlkette hindurch, die quer über den Weg gespannt war. Das Schild » Privatweg – Durchgang verboten « rasselte in ihrem Rücken. Der Matsch schmatzte unter ihren Füßen, fand die Ritzen in den Nähten ihrer Schuhe und drang bis ins Innenfutter. Nach einer Viertelstunde lichteten sich die Büsche und gaben die Sicht auf eine moosbewachsene Steinmauer und eine Kirschlorbeerhecke frei. Das schmiedeeiserne Tor stand einen Spalt offen. Dahinter erstreckten sich die Bauten: eine Garage für mindestens fünf Autos, ein Atelier, in dem Pouls Mutter so gern gemalt hatte, ein Bungalow, der als Schuppen diente, und die ehemalige Pracht – die Villa. Von dem vierstöckigen Gebäude war nur das Erdgeschoss geblieben. Die Decke zur zweiten Etage war an mehreren Stellen eingebrochen, die verkohlten Balken ragten in der Dämmerung wie Marterpfähle empor.
    »Wow«, wisperte Thessa hinter ihr. »Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Céli hat einmal von diesem Feuer erzählt. Dein Stiefvater hatte ein paar Brandwunden davongetragen, nicht wahr?«
    »Du wusstest von dem Unglück? Von diesem Ort?«
    »Ja, ich sagte doch, Céli hat es mal erwähnt. Und was willst du jetzt machen?«
    Mit wem hatte ihre Schwester noch darüber gesprochen? Leah schluckte. Wusste sie tatsächlich … wer sie hier erwarten würde? »Ihn suchen.«
    »Und dann?«
    »Mit ihm reden. Ich kenne ihn schon so lange, vielleicht kann ich ihn zur Vernunft bringen. Und du bringst meine Mutter und Kay in Sicherheit, sobald es geht. Ganz egal, was mit mir ist, verstanden?«
    »Kay … ?«
    »Thessa, hast du mich verstanden?«
    »J-ja. Okay.«
    Wo würde er sein? Im Atelier seiner Mutter? Die war gern mit einem Fotoapparat auf Inspirationssuche gegangen. Hatte er die Idee mit den Fotos von ihr?
    Oder war er am Teich hinter dem Haupthaus? Im Sommer hatten Céline und sie hier einmal gebadet, als Céline ihr kichernd zugeflüstert hatte, Poul würde sie beide von der Gartenlaube aus beobachten. Hatte dort alles angefangen, als Céline ihren Bikini auszog: He, was denkst du, bringen wir das Poul-Hörnchen auch dazu zu wichsen? Na komm schon, sei nicht so spießig! Spie-ßig. Spie-ßig. Spie…
    Sie musste wissen, wo er sich versteckte, was er vorhatte. Wie von selbst trugen ihre Beine sie um das Haus herum. Ein morscher Steg, schwarzes Wasser, etwas Helles, das auf der Oberfläche trieb. Ein Körper. Ein Kind.
    Sie lief. Ihre Sohlen trommelten gegen das Holz, die Bretter vibrierten, bogen sich, stöhnten. Hart schlugen ihre Knie auf die Planken. Sie griff ins Wasser, in dieses schwarze, flüssige Eis.
    Kein Kind – eine Puppe. Das Wasser troff aus dem Stoffkörper, sickerte durch die Kleidung, rann an ihrer verschwitzten Haut herunter, so sehr drückte Leah den kleinen Leib an sich. »Poul!«, brüllte sie, und ihre Stimme erzitterte über der spiegelglatten Oberfläche des Teichs, verfing sich im Schilf, das am anderen Ufer emporwucherte. »Poul, komm endlich raus! Lass diese Spielchen! Ich bin hier.« Nichts regte sich bei der Gartenlaube, die schief und zusammengesunken den Brombeersträuchern trotzte. »Bin hier … «
    Taumelnd kam sie auf die Beine und torkelte zum Ufer. Reiß dich zusammen! Reißen … wie …
    Seine Mutter hatte gern kleine Vögel gemalt. Die lebten, die davonflattern konnten und nicht zerriebene Federn zwischen den Fingern zurückließen.
    Die Puppe fester an sich gedrückt, bog sie um die Ecke. Blieb stehen. Ihre Beine schienen zu fließen, in den Boden, der keinen
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