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Im Tal der roten Sonne - Australien-Saga

Im Tal der roten Sonne - Australien-Saga

Titel: Im Tal der roten Sonne - Australien-Saga
Autoren: Lynne Wilding
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wirst du das Beste von allem haben und hoffentlich noch viele andere Familienmitglieder, die dich lieben...«

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    D er Morgen dämmerte heran und erhellte das spartanisch möblierte Zimmer, als Carla aufwachte. Sie hatte merkwürdige, beunruhigende Träume gehabt und würde weder Ruhe finden noch in der Lage sein, irgendeine Entscheidung zu treffen, ehe sie nicht das Tagebuch ihres Vaters gelesen hatte. Sie fröstelte, als sie aus dem Bett kletterte, denn die Morgenluft war extrem kühl. Sie zog den Morgenmantel eng um sich und bemerkte, dass Sam noch fest schlief. Sie nahm das Tagebuch und ging auf Zehenspitzen über den polierten Holzboden ins Wohnzimmer.
    Ihr Vater und Angie hielten das Haus tipptopp in Ordnung. Es war zweckmäßig eingerichtet und nur mit wenigen Dekorationsstücken geschmückt. Seine einzige Konzession an ›Unordnung‹ war ein kleiner runder Tisch, auf dem mehrere Fotos standen. Zum Beispiel ein Familienfoto - sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Vater. Ein Mitreisender hatte es aufgenommen, als sie in Auckland von Bord des Schiffes gingen, das sie in Italien bestiegen hatten. Neben dem Foto standen ein Hochzeitsfoto von ihr und Derek sowie einige Fotos von Sam in verschiedenen
Altersphasen. Dann fiel ihr etwas auf, das vorher für sie nie von Bedeutung gewesen war. Es gab keine Fotos, die vor 1972 aufgenommen worden waren.
    Sie nahm das Foto, auf dem ihre dunkelhaarige Mutter abgebildet war, in die Hand. Gina Bardolino-Kruger war ausgesprochen hübsch gewesen, war es vermutlich heute noch. Mit wehmütigem Gesichtsausdruck zeichnete Carla mit dem Nagel ihres Zeigefingers ihre Umrisse nach, denn sie hatte sie seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen. Gina war es nie gelungen, sich an das Leben in Neuseeland zu gewöhnen. Sie hatte Verständigungsschwierigkeiten gehabt, obwohl sie sich einigermaßen in Englisch ausdrücken konnte. Klimatische Unterschiede zwischen dem heiteren Norditalien und dem oft eisigen Valley View sowie die allmähliche Entfernung von Rolfe hatten dazu beigetragen, dass sich ihre einstmals fröhliche Mutter im Laufe der Jahre in eine traurige Frau verwandelt hatte, die ständig darüber klagte, dass sie ihr Leben und ihre Familie in Italien vermisste. Mit der Zeit hasste sie ihre Ehe und alles, was damit zusammenhing.
    Sie gab Rolfe die alleinige Schuld, liebte aber Carla über alle Maßen.
    Als Verkäuferin in einem Modegeschäft für Damen hatte Gina gut verdient und genug gespart, um nach Vicenza in der Nähe von Venedig reisen zu können und dort mit ihrer Tochter einen dreimonatigen Urlaub bei der Familie zu verbringen. Carla konnte sich daran kaum noch erinnern. Gina blieb in Italien und hatte ihre Tochter nur einmal danach in Christchurch besucht - und zwar nach Sams Geburt.
    In den folgenden Jahren, während Sam heranwuchs, war die Beziehung zwischen Mutter und Tochter aufgrund der großen Entfernung und der Tatsache, dass Gina sich um ihre Familie kümmerte und Carla nach Dereks Tod ihren
Beruf als Lehrerin wieder aufgenommen hatte, weiter abgeflaut. Sie riefen sich jedoch zweimal im Monat an, und Carla schrieb ihrer Mutter manchmal einen langen Brief. Carla bedauerte die große Entfernung, die zwischen ihnen lag und die ihr einst sehr zu schaffen gemacht hatte. Aber sie war reif genug, um zu begreifen, warum es geschehen war, obwohl es für Sam schön gewesen wäre, wenn er seine Großmutter mütterlicherseits besser kennengelernt hätte.
    Carla legte das Foto beiseite und setzte sich in Rolfes Lieblingssessel, der immer noch an derselben Stelle stand. Von dort konnte er durch das Wohnzimmerfenster auf die Rebstöcke schauen. Während sie sich hinsetzte, knarzte das abgewetzte Leder unter ihrem Gewicht. Sie zog die Beine unter sich, um ihre nackten Füße zu wärmen, öffnete das Tagebuch und... fand auf der ersten Seite eine zusammengefaltete Notiz. Sie faltete sie auseinander und erkannte die Schrift ihres Vaters. In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß. Er hatte die Notiz in dem Wissen geschrieben, dass sie sie erst nach seinem Tod lesen würde.
    Liebe Carla,
    verzeih mir, dass ich mich wie ein Feigling benommen habe und dir zu Lebzeiten nichts von meiner Vergangenheit erzählt habe. Die Erinnerung war einfach zu schmerzhaft für mich, und ich hoffe, du wirst das verstehen und mir verzeihen.
    In Liebe, dein Dad.
    Sie faltete die Notiz wieder zusammen, steckte sie in die Tasche ihres Morgenmantels und schaute auf das Datum in der oberen rechten Ecke des
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