Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tal der Giganten

Im Tal der Giganten

Titel: Im Tal der Giganten
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Gefahr von Mike abzuwenden, schien er
plötzlich zu vergessen, daß er eigentlich Mikes Diener war
und ihm Gehorsam schuldete. Außerdem war Mike im
Grunde sogar erleichtert über Singhs Entschluß, allein
voranzuklettern. Er war zwar ein guter Sportler, und zu
Hause und auch später im Internat in England war kein
Baum und auch keine Mauer vor ihm sicher gewesen, aber
der Anblick dieser Wand erfüllte ihn mit Entsetzen. Das
Eis war so glatt, daß es das Licht der Sonne reflektierte, so
daß man es immer nur ein paar Sekunden lang ansehen
konnte. Daran emporzuklettern mußte ungefähr so sein,
als versuchte man an einem Spiegel hochzusteigen, den
jemand sorgsam mit Schmierseife eingerieben hatte.
Singh ging diese Aufgabe jedoch mit erstaunlicher Geschicklichkeit an. So routiniert und sicher, als hätte er sein
Lebtag lang nichts anderes getan, schlug er die eisernen
Haken in die Wand, an denen er sein Seil befestigte und
die er anschließend als Leiter benutzte, um daran
emporzuklettern. Schon bald hatte er die halbe Distanz
überwunden. Er sieht wie eine große pelzige Fliege aus,
die eine Wand hinaufklettert, dachte Mike. Eine ganze
Weile noch sah er hinauf, auch nachdem Singh längst
oben angekommen und ihren Blicken entschwunden war,
dann wandte er sich wieder der gestrandeten Yacht zu.
Der Anblick hatte nichts von seiner unheimlichen Wirkung verloren. Mike fragte sich, wieso das Schiff überhaupt so weit gekommen war. Der Rumpf sah aus, als
wäre er von Messern aufgeschlitzt worden, überall
gähnten große, gezackte Löcher. »Ich möchte nur wissen,
was hier passiert ist«, murmelte er nach einer Weile.
»Irgend etwas stimmt doch hier nicht. « Im Grunde sprach
er nur, um überhaupt etwas zu sagen und gegen die Stille
anzukämpfen, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.
Dabei war es gar nicht wirklich still; im Gegenteil: Der
Wind heulte weiter über ihren Köpfen, die Wellen brachen
sich weiter donnernd an den Riffen, und trotzdem war da
plötzlich eine unheimliche, ja fast unwirkliche Art von
Stille, die wie etwas Unsichtbares aus dem Nebel herauszukriechen und neben der Wirklichkeit zu existieren
schien.
»Wenn du mich fragst, dann stimmt mit dieser ganzen
Insel irgend etwas nicht«, antwortete Juan nach einer
Weile.
Mike sah ihn überrascht an. »Du spürst es auch?« »Ich
spüre überhaupt nichts mehr«, maulte Juan. »Dazu ist es
viel zu kalt. «
Aber Mike wußte, daß Juan im Grunde ganz genau verstand, was er meinte. Irgend etwas war unheimlich an
dieser Insel. Irgend etwas war falsch. Es begann mit dem
Nebel, der noch immer wie eine graue, wattige Decke auf
dem Wasser lag. Hier und da riß der Wind Löcher hinein,
die sich aber immer wieder fast sofort schlössen. Je länger
Mike hinsah, desto weniger kam ihm dieser Nebel
wirklich wie Nebel vor. Er war zu dicht, und das
unablässige Wogen und Zittern seiner Oberfläche
entsprach einem eigenen Rhythmus, nicht dem des
Windes, der daran nagte. Manchmal schien er dünne,
rauchige Arme auf den Strand hinaufzuschicken, wie die
tastenden Finger eines bizarren Meeresungeheuers, das
nach den Opfern suchte, die ihm entkommen waren, und
wenn man lange genug hinsah, dann konnte man sich
einbilden, unheimliche Schatten darin zu erkennen, fast als
versuche der Nebel, sich zu einem Körper
zusammenzuballen und Substanz zu gewinnen. Fast?
Mike spürte, wie sich jedes einzelne Haar auf seinem Kopf
aufstellte. Die Schatten waren nicht eingebildet. Sie waren
wirklich da - und sie kamen langsam den Strand hinauf;
zwei schlanke, verzerrte Schatten, die nicht ganz
menschlich wirkten und immer wieder zu verblassen
schienen, aber jedesmal, wenn sie sich erneut
zusammenfanden, ein wenig massiver waren. Erschrocken
richtete er sich auf, und Juan, dem die Bewegung natürlich
nicht entging, wurde kreidebleich, als er Mikes Blick
folgte und die beiden Gespenster ebenfalls sah. »Was zum
Teufel ist das?« flüsterte er. Die beiden Umrisse kamen
immer näher und hatten die Grenze des Nebels fast
erreicht, und plötzlich kamen sie Mike gar nicht mehr
schlank und klein, sondern verzerrt und riesenhaft vor und
ungemein bedrohlich. Dann traten die beiden Schatten
endgültig aus dem Nebel heraus und wurden zu Körpern,
und Mike stieß einen keuchenden Schrei aus - allerdings
aus Verblüffung, nicht aus Angst.
»Serena!« rief er ungläubig. »Chris! Was... was tut ihr
denn hier?«
Natürlich waren die beiden viel zu weit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher