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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition)
Autoren: Michael Theurillat
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Abenddämmerung zu, wie sie sich langsam über die Stadt senkte.

Epilog
    Seit zwei Tagen schneite es unablässig. Dicke, nasse Flocken taumelten auf die Dächer der Häuser und auf die Autos, die notdürftig geparkt am Straßenrand standen, weil sie wegen Schnee und Eis nicht mehr weiterkamen. Es ging alles langsamer in dieser Jahreszeit; wenn die Straßen verstopft und die Stromleitungen der Züge und Trams vereist waren. Die Leute kamen später in die Büros und gingen früher nach Hause. Nur die Putz-Equipe kam pünktlich wie immer. Um halb acht Uhr abends standen sie da: Türken, Tamilen, Menschen aus dem Kosovo, aus Moldawien, Tschechien und wer weiß von woher überall noch.
    Sie grüßten Eschenbach freundlich, als sie zu ihm ins Büro kamen, bevor sie mit einem flauschigen Lappen über Tische, Stühle und übers Telefon fuhren und mit dem Staubsauger hantierten. Der Sicherheitsbeamte, der den Reinigungstross begleitete, Türen auf- und zuschloss und aufpasste, dass nichts Unrechtes geschah, salutierte. Eschenbach winkte.
    Auf dem Schreibtisch des Kommissars standen aufgeklappt ein paar Weihnachtskarten: Motive von Alexander Calder und Max Ernst, Selbstgebasteltes genauso wie aufgeklebte Fotos und Firmenkarten. Festtagsgrüße von den Freunden, Christian, der mit den Kindern zum Skilaufen nach Klosters gefahren war, und Gabriel, der ihn zu einem Apéro einlud. Eine der Karten zeigte die Champs-Elysées mit Christbäumen: »Habe Prüfung bestanden und verbringe den Jahreswechsel mit Doris in Paris.« Neben dem gedruckten Joyeux Noël stand hinzugekritzelt: »Ein herzliches Dankeschön noch, ich melde mich im Januar.« Unterschrieben von Claudio Jagmetti.
    Etwas abseits vom fröhlichen Kartenwirrwarr lag ein Brief. Die Handschrift, geschwungen und in blauer Tinte, hätte besser zu Büttenpapier gepasst als zu dem schmuddeligen, klein karierten Papier, auf dem sie sich festgesogen hatte.
    Lieber Herr Eschenbach,
    seit ich am 9. Oktober hier eingeliefert worden bin, schreibe ich jeden Tag einen Brief an Sie. Meistens mittags um halb vier, nachdem ich eine kurze Stunde geschlafen oder mich einfach nur hingelegt habe. Sie wissen das nicht – können es auch nicht wissen, da ich den Brief des vorangegangenen Tages zerreiße, sobald ich ihn wieder neu verfasst habe. Schreiben hält mich geistig bei Trost und ist eine Abwechslung zum vielen Lesen.
    Die ersten Briefe begann ich mit »Lieber Herr Kommissar«. Irgendwann wurde »Lieber Kommissar Eschenbach« daraus, und vielleicht lande ich irgendwann einmal bei »Lieber Eschenbach«. Ihren Vornamen kenne ich nicht, und ich kann mich auch nicht erinnern, ihn jemals gehört oder irgendwo gelesen zu haben.
    Das Bezirksgefängnis Zürich ist ein Loch hinter dem Gerichtsgebäude, aber das wissen Sie ja besser als ich. Trotzdem will ich hier bleiben – auch wenn Sie sich offenbar redlich bemühen (ich nehme an, es kommt von Ihnen), dass man mich in einen dieser modernen Luxusbunker verschieben möge. Es ist das einzige Gefängnis der Stadt – meiner Stadt –, und die liegt mir mehr am Herzen als Pfäffikon oder irgendein anderes Kaff außerhalb. Das mag für Sie seltsam klingen, aber so bin ich nun mal. Und genauso ist es hier auch: veraltet und verbraucht, mit kleinen Gitterfenstern unter der Decke. Nicht gemacht, um hinauszuschauen. Außer man steigt aufs Bett – und dafür bin ich nun wirklich zu alt.
    Kurzum: Es ist der ideale Ort zum Sterben. Man fühlt sich bereits halb begraben, also kann der nächste Schritt nicht mehr weit sein.
    Nachts, wenn ich mich ins Bett gelegt und noch ein paar Seiten gelesen habe (in Klammern stand durchgestrichen: Anton C˘ echov, darüber: Jane Austen), dann versuche ich es: Das mit dem Sterben … Im Moment übe ich noch; ich glaube, es fehlt mehr am Mut als an der Ruhe hier. Meine schlotterigen Knie und die gelegentlichen Herzrhythmus-Störungen sind meine Verbündeten. Ich denke, dass wir es bis zum Todestag von Philipp schaffen werden. Im Sommer sterben war schon immer mein Traum gewesen.
    Das Einzige, das mich vorübergehend daran hindert, ist das Essen. Ich weiß nicht, woher es kommt (vielleicht kochen sie es tatsächlich selber, wie sie behaupten) – jedenfalls ist es vorzüglich. Es scheint, als wollten sie die Baufälligkeit der Anlage mit kulinarischen Höhenflügen wettmachen.
    Eveline besucht mich regelmäßig; ab und zu auch Doris oder Frau Saladin – meine treue Sekretärin. Es ist nicht einfach mit ihnen. Sie wollen
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