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Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Titel: Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
Autoren: Byung-Chul Han
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bewirkt ein Weniger an Information ein Mehr. Die Negativität des Auslassens und des Vergessens ist produktiv. Mehr Information und Kommunikation allein erhellt die Welt nicht. Die Durchsichtigkeit macht auch nicht hellsichtig. Die Informationsmenge allein erzeugt keine Wahrheit. Sie bringt kein Licht ins Dunkel. Je mehr Information freigesetzt wird, desto unübersichtlicher, gespenstischer wird die Welt. Ab einem bestimmten Punkt ist die Information nicht mehr informativ, sondern deformativ, die Kommunikation nicht mehr kommunikativ, sondern bloß kumulativ.
     
    Zur Informationsmüdigkeit gehören auch Symptome, die charakteristisch sind für die Depression. Die Depression ist vor allem eine narzisstische Erkrankung. Zur Depression führt der überspannte, krankhaft übersteuerte Selbstbezug. Das narzisstisch-depressive Subjekt vernimmt nur den Widerhall seiner selbst. Bedeutungen gibt es nur dort, wo es sich irgendwie wiedererkennt. Ihm erscheint die Welt nur in Abschattungen des Selbst. Am Ende ertrinkt es in sich selbst, erschöpft und zermürbt von sich selbst. Unsere Gesellschaft wird heute immer narzisstischer. Soziale Medien wie Twitter oder Facebook verschärfen diese Entwicklung, denn sie sind narzisstische Medien.
     
    Zur Symptomatik von IFS gehört auch die Unfähigkeit, Verantwortung zu tragen. Die Verantwortung ist ein Akt, der an bestimmte mentale und auch temporale Bedingungen geknüpft ist. Sie setzt zunächst Verbindlichkeit voraus. Wie Versprechen oder Vertrauen bindet sie die Zukunft. Sie stabilisieren die Zukunft. Die heutigen Kommunikationsmedien fördern dagegen Unverbindlichkeit, Beliebigkeit und Kurzfristigkeit. Absoluter Vorrang der Gegenwart kennzeichnet unsere Welt. Die Zeit wird zerstreut zu bloßer Abfolge verfügbarer Gegenwart. Die Zukunft verkümmert dabei zu optimierter Gegenwart.
     
    Die Totalisierung der Gegenwart vernichtet die zeitgebenden Handlungen wie Verantworten oder Versprechen.

KRISE DER REPRÄSENTATION
    Roland Barthes beschreibt die Fotografie als »Emanation des Referenten«. 59 Die Repräsentation ist ihr Wesen. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die den Film affizieren. Die Fotografie konserviert die quasi materiellen Spuren des realen Referenten. Sie hat ihren Referenten »immer im Gefolge«. Die Fotografie und ihr Referent sind »zur gleichen Unbeweglichkeit verurteilt, die der Liebe oder dem Tod eignet, inmitten der bewegten Welt«. 60 Die Fotografie und ihr Referent sind »aneinander gebunden, Glied an Glied, wie der Verurteilte, den man bei bestimmten Arten der Folter an einen Leichnam kettete, oder wie jene Fischpaare, die nur gemeinsam schwimmen, als wären sie in einem ewigen Geschlechtsakt vereint«. 61
     
    Die Wahrheit der Fotografie besteht Barthes zufolge darin, dass sie schicksalhaft untrennbar an den Referenten, das heißt, an das reale Bezugsobjekt gebunden ist, dass sie die Emanation des Referenten darstellt. Die Liebe und Treue zu ihm zeichnet sie aus. Die Fotografie ist nicht der Raum der Fiktion oder Manipulation, sondern ein Raum der Wahrheit. Barthes spricht vom »Eigensinn des Referenten «. 62 »Die helle Kammer« kreist um eine unsichtbare Fotografie seiner Mutter im Wintergarten. Die Mutter ist der Referent schlechthin, dem seine Trauer und Trauerarbeit gilt. Die Mutter ist die Hüterin der Wahrheit.
     
    Das Bild von Rene Magritte »Ceci n'est pas une pipe« hat Barthes offenbar vor Augen, wenn er schreibt: »Von Natur aus hat die Fotografie etwas Tautologisches: eine Pfeife ist hier stets eine Pfeife.« 6 ' Warum beansprucht er so emphatisch die Wahrheit für die Fotografie? Ahnt er die kommende Zeit des Digitalen, in der die endgültige Ablösung der Repräsentation vom realen Referenten stattfindet?
     
    Die digitale Fotografie stellt die Wahrheit der Fotografie radikal infrage. Sie beendet die Zeit der Repräsentation endgültig. Sie markiert das Ende des Realen. In ihr ist kein Verweis auf den realen Referenten mehr enthalten. So nähert sich die digitale Fotografie wieder der Malerei an: »Ceci n'est pas une pipe.« Als Hyperfotografie präsentiert sie eine Hyperrealität, die realer zu sein hat als die Realität. Das Reale ist in ihr nur noch zitathaft und bruchstückhaft vorhanden. Die Zitate aus dem Realen werden aufeinander bezogen und mit dem Imaginären vermischt. Dadurch eröffnet die Hyperfotografie einen selbstreferenziellen, hyperrealen Raum, der vollständig vom Referenten abgekoppelt
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