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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald
Autoren: Matt Haig
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herausspringen.
    Samuel versuchte, es aus seinen Gedanken zu verscheuchen - so wie ein nasser Hund das Wasser abschüttelt -, und folgte seiner Tante und seiner Schwester zum Auto.
    »Warum benehmen sich die Leute hier alle so merkwürdig?
«, fragte er seine Tante, während sie die Einkäufe im Kofferraum verstauten.
    »Wenn du sie näher kennenlernst, wirst du sehen, dass sie gar nicht so merkwürdig sind. Sie sind nur ein wenig furchtsam, das ist alles. Und das kann natürlich manchmal zu merkwürdigen Reaktionen führen.«
    »Wovor haben sie denn Angst?«, fragte Samuel. »Gibt es einen Grund, sich zu fürchten?«
    »Nein!«, antwortete Eda verdächtig schnell. »Nicht wenn wir alle gewisse Regeln befolgen. Ich sehe dir an, Samuel, dass dir meine Worte nicht besonders gefallen. Aber die Regeln gelten nicht nur für dich, sondern auch für mich. Solange wir uns alle drei daran halten, ist alles in Ordnung. Dann werden wir auch nicht so merkwürdig wie die verschreckten alten Dorfbewohner.«
    Samuel verzog die Lippen, als er auf dem Rücksitz Platz nahm. Sein ganzes Leben lang hatte er sich an irgendwelche Vorschriften halten müssen. Mach deine Hausaufgaben! Zieh am Nachmittag deine Schuluniform aus! Und wohin hatten ihn diese Vorschriften gebracht? Nach Norwegen zu seiner Tante mit den Haaren im Gesicht.
    Aber damit war es ein für alle Mal vorbei. Samuel Blink würde sich nichts mehr vorschreiben lassen.
    Außerdem - was hatte er noch zu verlieren?

Der unaussprechliche Ort
    T ante Eda lebte in einem weißen Holzhaus mit steil abfallendem grauen Dach, nur wenige Kilometer von Flåm entfernt.
    Die meisten Besucher des Hauses wären von seiner wunderschönen Lage beeindruckt gewesen. Es thronte auf einem saftig grünen Hang mit Aussicht auf einen der schönsten Fjorde des Landes, den Aurlandfjord - ein gewaltiger Meeresarm, dessen Wasser so still und rein ist, dass er wie ein riesiger Spiegel die bewaldeten Hügel und schneebedeckten Berge reflektiert.
    Samuel indes reagierte nicht wie die meisten Besucher. Er hasste das Haus und die Aussicht vom ersten Moment an. Und der grasbewachsene Hügel hinter dem Haus, der zu einem dichten, dunklen Wald führte, war ihm ebenso wenig sympathisch.
    »Das ist der schrecklichste Ort, den ich je gesehen habe«, murmelte er seiner Schwester zu, die weder zustimmend nickte noch den Kopf schüttelte.
    Wo waren die anderen Leute? Und womit sollte man sich hier nur die Zeit vertreiben?
    »Ich zeige euch jetzt das Haus«, sagte Tante Eda, während sie Samuel und Martha vom Auto zur Haustür führte. Samuel fiel auf, mit welcher Leichtigkeit ihre dürren Arme sowohl den Handkoffer als auch die Einkaufstüten trugen, als wären sie mit nichts als Federn gefüllt.

    »Hier im Eingangsbereich könnt ihr eure Jacken aufhängen und die Schuhe ausziehen«, erklärte sie, während sie den Koffer und die Tüten abstellte. »Auf der linken Seite sind Küche und Waschraum und am Ende des Gangs, auf der rechten Seite, befindet sich das Wohnzimmer.«
    Sie führte die beiden in einen großen Raum mit holzverkleideten Wänden, dicken Teppichen und einem offenen Kamin. Als Samuel seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, rieselte ihm ein Schauer über den Rücken. Er hatte das merkwürdige Gefühl, nicht zum ersten Mal hier zu sein. Er erinnerte sich an alle Einrichtungsgegenstände, hätte aber nicht sagen können, woher er sie kannte. Den Schaukelstuhl, das Sofa mit der bunten Wolldecke, den dunklen Holztisch, die Regale, auf denen Glasvasen und muffige Bücher standen, den leeren Hundekorb, die gerahmten Gemälde, die Berge und Fjorde zeigten, sowie die wirklichen Berge und den Fjord, die man sah, wenn man aus dem vorderen Fenster blickte.
    »Ach, die Bilder«, sagte Tante Eda, als sie bemerkte, dass Samuel die Gemälde musterte. »Die hat ein alter Mann aus dem Dorf gemalt. Wir nennen ihn den Alten Tor. Manchmal geht er in der Nacht hinaus, um das Wasser und die Berge unter den Sternen zu malen.«
    Blickte man aus dem hinteren Fenster, bekam man etwas ganz anderes zu sehen, nämlich einen grünen Hügel, der sich einer sonderbaren Armee dunkler Kiefern am Horizont entgegenstreckte.
    Samuel verdrängte das Gefühl, er sei schon einmal hier gewesen, und machte eine zweite, noch beunruhigendere Entdeckung. »Wo ist der Fernseher?«
    »Ich habe keinen Fernseher«, antwortete Tante Eda. Sie schien fast stolz auf diese Tatsache zu sein. Stolz darauf, keinen Fernseher zu haben!

    »Aber ich habe
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