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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald
Autoren: Matt Haig
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die Kunsthandlung am Ende der Straße hat? Dessen Frau gerade so unverschämt zu mir war? Natürlich! Ich habe schon Bilder bei ihm gekauft. Warum?«
    Oskar: »Er hat mir erzählt, dass er letzten Freitag unten am Fjord war, um ein Bild bei Mondlicht zu malen. Da sah er ein großes Monster, das aus dem Wald gekommen war - einen Troll mit zwei Köpfen.«
    Tante Eda (schluckt): »Einen Troll mit zwei Köpfen?«
    Oskar: »Ja, und er wurde von noch hässlicheren Kreaturen gejagt, den Huldren!«
    Tante Eda: »Huldren! Wie der Professor gesagt hat.«
    Oskar: »Ja, sie ritten auf Pferden. Der Alte Tor sah, wie sie ein Netz über den zweiköpfigen Troll warfen und ihn zu Boden rissen. Dann zerrten sie ihn in den Wald zurück.«
    Tante Eda: »Was hat Tor dann getan?«
    Oskar: »Er versteckte sich zitternd hinter seiner Leinwand und betete, dass sie ihn nicht entdecken würden. Zwei Stunden hat es gedauert, bis er sich wieder hervorgewagt hat.«
    Tante Eda: »Wie hat er bei der Dunkelheit so gut sehen können? Er hat doch nur ein gesundes Auge, oder?«
    Oskar: »Das stimmt, aber auf diesem Auge sieht er ausgezeichnet. Du kennst seine Bilder. Niemand wird im Dorf so viel Respekt entgegengebracht wie ihm. Und wenn die Wesen jetzt schon aus dem Wald herauskommen, ist doch wohl klar, dass sich die Leute Sorgen um die Kinder machen. Dein Haus steht einfach zu nah am Wald, Eda.«
    Tante Eda: »Glaubst du, ich wüsste das nicht? Aber was
meinen all die besorgten Leute denn eigentlich, was ich tun werde? Glauben sie etwa, ich würde die Kinder in den Wald schicken? Glauben sie etwa, ich würde sie nicht davor warnen? Glauben sie etwa, ich würde ihnen nicht verbieten, nach Anbruch der Dunkelheit nach draußen zu gehen? Natürlich werde ich das. Was sollte ich sonst tun?«
    Oskar: »Du könntest … umziehen. Vielleicht.«
    Tante Eda: »Und was würde mein geliebter Henrik dazu sagen?«
    Oskar: »Henrik? Ach, Eda! Henrik ist … fort. Sieh das doch endlich ein.«
    Tante Eda: »Das weiß ich doch. Aber ich weiß auch, dass er eines Tages zurückkommen wird.«
    Oskar: »Das ist jetzt zehn Jahre her, Eda. Zehn Jahre, seit er in den Wald hineinging. Er kommt nicht mehr zurück.«
    Tante Eda: »Wenn ich das auch glauben würde, dann wäre ich schon vor Jahren in den Wald gegangen und hätte meinem Leben ein Ende gesetzt.«
    Oskar: »Das meinst du nicht im Ernst. Es gibt noch so viele andere Männer, die gegen ein bisschen Gesellschaft nichts einzuwenden hätten.«
    Tante Eda: »Ja, vielleicht hast du Recht. Aber jetzt muss ich mich erst mal um Samuel und Martha kümmern. Ich bin mir ganz sicher, dass Henrik noch lebt. Irgendwo im Wald. Und eines Tages wird er zurückkommen.«
    Oskar: »Aber wann? In zehn Jahren? Wäre es nicht besser, du …?«
    Tante Eda: »Nein. Er lebt und wird zurückkommen. Das sagt mir mein Herz. Wenn du so sehr an die Liebe glauben würdest, wie du dem Alten Tor glaubst, dann würdest du mich verstehen.«
    Oskar: »Ach, Eda, wenn du wüsstest, wie sehr ich an die wahre Liebe glaube.«

    Tante Eda: »Was meinst du damit?«
    Oskar (errötend): »Äh, nichts … gar nichts.«
    Tante Eda: »Hier sind zwanzig Kronen. Den Rest kannst du behalten. Morna, Oskar.«
    Oskar: »Morna.«

    Dann wandte sich der Ladenbesitzer an die beiden Kinder und sagte in gebrochenem Englisch: »Tut immer, was eure Tante euch sagt. Und nehmt euch in Acht vor den Träumen.«
    Was für Träume? , dachte Samuel. Was meint er damit?
    (Er wusste ja nicht, dass der Mann vom Wald gesprochen hatte und natürlich »Bäume« statt »Träume« meinte.)
    Tante Eda, Samuel und Martha verließen den Laden und gingen zu ihrem Auto zurück. Auf dem Weg dorthin warf Samuel einen Blick in die Kunsthandlung des Alten Tor.
    Er erkannte die korpulente Frau mit den drei Strickjacken, die Tante Eda so schnöde behandelt hatte. Sie sprach mit einem Mann, der einen langen Bart trug und dessen Kleidung voller Farbkleckse war. Als er einen kurzen Blickkontakt zu dem Mann hatte, sah er, dass sein eines Auge weiß wie Milch war. Samuel tat so, als sei er an den Ölgemälden im Schaufenster interessiert. Die meisten stellten Berge und Fjorde dar, doch dann erblickte er plötzlich ein weiteres Bild. Es hing nicht im Fenster, sondern hinter dem alten Mann an der Wand. Es zeigte ein gefährlich aussehendes Wesen mit zwei Köpfen. Das Bild sah so realistisch aus, dass Samuel zusammenzuckte. Fast hätte man glauben können, das Wesen würde jeden Moment aus dem Bild
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