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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald
Autoren: Matt Haig
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Namen.
    »Es ist nicht mehr weit«, antwortete sie. »Wir müssen allerdings in Flåm Station machen und ein paar Lebensmittel einkaufen. Flåm ist der Ort, der meinem Haus am nächsten liegt. Ein hübsches Dorf.«

    Diese Worte waren kein Trost. Nie zuvor hatte sich Samuel so weit von zu Hause entfernt gefühlt. Und das lag nicht allein an den beiden Flügen und der langen Autofahrt durch diese sonderbare Gegend. Es lag an dem Wissen, dass er seinem Zuhause auch nicht näherkommen würde, wenn er die Flugreisen und die Autofahrt noch einmal in umgekehrter Richtung unternehmen könnte. Seit dem Tod seiner Eltern wusste er, dass er sich nie wieder zu Hause fühlen würde - selbst wenn er 100 Jahre alt wurde.
    »Ich habe einen Hund«, sagte Tante Eda. »Einen Norwegischen Elchhund. Ein sehr liebes Tier, vielleicht ein wenig gefräßig. Er heißt Ibsen. Ich habe in meinem Brief ja schon von ihm geschrieben. Er bellt zwar viel, ist aber absolut gutmütig. Mögt ihr Hunde?«
    »Nein«, sagte Samuel.
    Martha schwieg.
    »Oh, ich bin ganz sicher, dass ihr Ibsen mögen werdet.«
    Von einem auf den anderen Moment war die Landschaft zu beiden Seiten der Straße verschwunden und einem undurchdringlichen Dunkel gewichen.
    »Da vorne ist ein langer Tunnel«, sagte Tante Eda. »Er ist elf Kilometer lang und führt unter einem Berg hindurch.«
    Samuel warf seiner Schwester einen vielsagenden Blick zu. Normalerweise hatte sie Angst vor Tunneln, doch ihr Gesicht verriet keinerlei Regung.
    »Ihr seid ja so ruhig«, sagte Tante Eda, an Martha gewandt. »Erzählt mir doch mal, was für Hobbys ihr habt.«
    Die Fragen machten Samuel zornig. »Sie kann dir nicht antworten. Sie … spricht nicht.« Tante Eda machte ein erstauntes Gesicht, also fügte Samuel hinzu: »Sie hat seit Mums und Dads Tod kein Wort mehr gesprochen. Sie nickt bloß oder schüttelt den Kopf. Du kannst sie nur Dinge fragen, die sich mit Ja oder Nein beantworten lassen.«

    Samuel meinte, die Idee mit der stummen Schwester würde Tante Eda sicherlich einen Schock versetzen, doch die tat so, als sei dies das Natürlichste auf der Welt. Er betrachtete das Gesicht seiner Tante im flackernden Licht des Tunnels, erblickte jedoch nur ihr sanftes Lächeln unter denselben traurigen Augen.

Die Geschichte des Alten Tor
    H ier sind wir«, sagte Tante Eda, als sie um die Ecke bogen. »Dies ist Flåm, der Ort, der meinem Haus am nächsten liegt. Hier müssen wir ein paar Lebensmittel einkaufen.«
    Flåm war ein stilles, ordentliches Dorf, in dem es so gut wie keinen Verkehr gab. Es erinnerte Samuel an ein Spielzeugdorf, das er früher besessen hatte, doch dies war ein Spielzeugdorf, das man zu Lebensgröße aufgeblasen hatte. So wie in Hell und all den anderen Orten, durch die sie gefahren waren, wurden die Straßen von Holzhäusern mit Dachgiebeln gesäumt - einige waren weiß oder blau gestrichen, andere dunkel oder naturbelassen. Tante Eda fuhr langsam an der Kirche vorbei, die ebenfalls aus Holz war und - abgesehen von ihrem kurzen, spitzen Turm - so aussah wie alle anderen Gebäude auch.
    »Euer Onkel Henrik scherzte immer, es sei gar keine richtige Kirche. Er meinte, es sei ein ganz normales Haus, das unbedingt etwas Besseres sein will«, sagte Tante Eda, als sie an einer Kreuzung warteten.
    Sie parkte den Wagen direkt an der Hauptstraße.
    »Kommt, lasst uns einkaufen!«
    Obwohl Samuel schmollte, folgten er und Martha ihrer Tante. Sie gingen an einer Buchhandlung vorbei, passierten ein Kunstgeschäft und steuerten dann einen Laden an, auf
dessen Schild in unübersehbaren Buchstaben zu lesen stand:
    DAGLIVAREBUTIKK
    »Das ist der Laden von Oskar«, erklärte Tante Eda. »Hier mache ich immer meine Einkäufe. Es ist ein sehr schöner, kleiner Laden.«
    Die Glocke klingelte, als sie die Tür aufdrückte.
    Der strenge Geruch nahm Samuel fast den Atem. Ihm war, als befände er sich mitten in einem riesigen Stück stinkenden Käse.
    Im Laden befanden sich zahlreiche Dorfbewohner, plauderten und lachten, doch als sie die Türglocke hörten und Eda und die beiden Kinder erblickten, verstummten sie schlagartig.
    »Goddag!«, sagte Tante Eda fröhlich, doch ihr Gruß prallte an den versteinerten Gesichtern ab.
    Tante Eda ignorierte sie, schnappte sich einen Einkaufskorb und begann, verschiedene Waren von den Regalen zu nehmen - eine Packung Flachbrot, einen Karton Moltebeersaft, eine Dose eingelegte Heringe -, während Samuel und Martha hinter ihr herschlurften.
    Als sie die Käsetheke
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