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Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)

Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)

Titel: Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
Autoren: Bernd Perplies
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die Ungeheuer, für die ihr uns haltet. Und deshalb …« Unvermittelt rammte er dem Mann das Messer in die Brust, direkt ins Herz.
    Der Fremde riss die Augen auf und zuckte heftig zusammen.
    Carya sog erschrocken die Luft ein, und ihre Hand krallte sich in Jonans Arm.
    »… mache ich es so schmerzlos wie möglich für dich«, fuhr Ordun düster fort. Sein Griff verstärkte sich einige schreckliche Augenblicke lang, während der Mann in seinem Arm zuckte, bis er das Bewusstsein verlor. »Obwohl ihr Diener des Lux Dei einen leichten Tod gar nicht verdient habt.«
    Beim Anblick des Blutes, das den Stoff des Unterhemds des Mannes binnen Sekunden vollkommen rot färbte, wurde Carya schwindelig. Mit einem so kaltblütigen Mord hatte sie nicht gerechnet, und der Schock hätte ihr beinahe das Bewusstsein geraubt. Aber sie biss die Zähne zusammen und wandte den Blick nicht ab.
    Der Stammesführer ließ den Mann los, der auf dem Stuhl zusammensackte. Mit dunklen Augen blickte er Carya und Jonan an. »Es musste sein«, sagte er leise, so als sei ihm die Ungeheuerlichkeit seiner Tat sehr wohl bewusst. »Hätten wir ihn gehen lassen, hätte er uns verraten.«
    »Seine Vorgesetzten hätten ihn nicht geschickt, wenn sie nicht ohnehin das Gefühl gehabt hätten, dass es sich lohnen könnte, euer Dorf noch einmal in Augenschein zu nehmen«, gab Jonan zu bedenken. Auch er wirkte erschüttert. »Der Tod dieses Mannes wird sie kaum aufhalten, weitere Schritte einzuleiten. Wenn er nicht zurückkehrt, denken die sich ihren Teil schon. Ich fürchte, wir sind hier nicht mehr sicher.«
    Seufzend fuhr sich Ordun mit der Hand über den kahlen Schädel. »Das fürchte ich auch.« Er wandte sich an seine Männer. »Cassio, lass alle wissen, dass es heute Abend eine Versammlung gibt. Wir müssen eine schwere Entscheidung treffen.«
    Gegen Nachmittag kehrten die Männer und Frauen des Dorfes zurück, die zum Jagen und Sammeln morgens in die Wildnis ausgezogen waren. Wie alle anderen wurden auch sie sofort davon unterrichtet, dass am Abend eine Versammlung auf dem Dorfplatz stattfinden sollte. Und so fand sich, als die Sonne den Hügelkuppen am westlichen Horizont entgegensank, die gesamte Gemeinschaft der Ausgestoßenen vor dem provisorischen Tempel der Tochter des Himmels ein, in dem nun wieder Caryas Kapsel untergebracht war.
    Carya traf, in Begleitung von Jonan, als eine der Letzten ein. Im Vorbeigehen nickte sie Nessuno und Petas zu und schenkte jenen, die ihr ehrfürchtige Blicke zuwarfen, ein freundliches Lächeln. Dann gesellte sie sich zu ihren Eltern, die am Rand der Versammlung unweit der Stufen des Tempels standen. Pitlit und Suri hielten sich nur wenige Schritte entfernt auf und winkten, als sie Carya und Jonan sahen.
    Schon seit ihrer Rettung aus den Händen der Inquisition war Carya aufgefallen, dass der Straßenjunge fast seine ganze Zeit mit dem Mädchen verbrachte. Dabei schien die Freundschaft zwischen den beiden mit jedem Tag enger zu werden, auch wenn Pitlit alle Hinweise in dieser Richtung mit der Entschiedenheit eines Ertappten von sich wies. Nach den Moralvorstellungen der Bürger Arcadions mochte eine derartige Beziehung zwischen einem frühreifen Dreizehnjährigen und einem vielleicht zwei oder drei Jahre älteren Mädchen fragwürdig sein.
    Aber in der Wildnis, und insbesondere unter den Ausgestoßenen, die an vielerlei namenlosen Krankheiten litten, kam der Tod oft verfrüht und mit erschreckender Plötzlichkeit. Für die Leute hier war jeder Tag ihres Lebens ein Geschenk. Dieses Geschenk zu verschwenden, indem man wartete, bis man im gesellschaftlich angemessenen Alter war, um etwa einen Gefährten oder eine Gefährtin zu wählen, und mochte es auch nur für ein paar Wochen oder Monate sein, galt als Frevel.
    Diese Art von Denken verstand Carya, und deshalb sagte sie auch nichts, wenn sie Pitlit und Suri zusammen sah, auch wenn sich ein Teil von ihr fragte, ob der vorlaute Straßenjunge überhaupt schon wusste, was Liebe eigentlich war. Die Lebenseinstellung der Ausgestoßenen sorgte auch dafür, dass sie selbst keinen Hehl daraus machte, dass Jonan mehr für sie war als nur ein Beschützer oder Begleiter. Ihre Eltern hatten diesen Umstand eigentlich ganz gut aufgenommen, womöglich weil Carya nun wirklich fast im heiratsfähigen Alter war und weil Jonan eigentlich alles hatte, was man von einem guten Mann erwartete. Er war treu und furchtlos, und er behandelte Carya nicht von oben herab, obwohl er gute sechs Jahre
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