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Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)

Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)

Titel: Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
Autoren: Jürgen Rath
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gelingt.
    Er lehnte sich über das Geländer.
    Kaum hat man sich an die Leute gewöhnt, schon ist wieder alles zu Ende. Der Klabautermann haut einfach ab, Hinrich Quast sicherlich auch. Vorbei die schöne Zeit am Steinhöft. Und Jette? Die werde ich wohl nie mehr wiedersehen. Wenn sie ihren freien Tag hat, muss sie bestimmt gleich nach Hause gehen und Wäsche waschen und die Geschwister hüten. Wir können uns ja am Jungfernstieg sehen, hat sie gesagt. Wie schön, wie beruhigend. Doch leider ist das kein Trost, eher eine Bedrohung, denn ich muss als Wachmann neben Cäcilie herlaufen. Wenn Jette mich mit Cäcilie sieht, du meine Güte, die reißt mir den Kopf ab. Oder Cäcilie reißt mir den Kopf ab. Oder beide zusammen.
    Moritz beugte sich weit über das Geländer, immer weiter. Ein Geruch von Moder wehte hoch. Er hielt die Luft an, wollte den Gestank ignorieren, doch er hielt es nicht lange aus. Ruckartig richtete er sich auf, spuckte angeekelt in das Fleet und ging nach Hause.

32
    Moritz schaute sich um. Die Leere schmerzte in seinen Augen und machte ihn traurig. Die Mitbringsel aus aller Welt waren von den Wänden verschwunden, ebenso die Möbel von Kapitän Westphalen. Nur das Stehpult stand noch da, einsam und verlassen. Moritz fühlte sich sehr verbunden mit dem zurückgelassenen Pult.
    Er wischte den Staub von der Arbeitsplatte, strich nachdenklich an den schönen Schnitzereien entlang. Es war noch nicht lange her, da hatte er hier gestanden und versucht, aus den Hieroglyphen des Kapitäns einen einigermaßen ordentlichen englischen Brief zu machen. Hier hatte er sich zu Hause gefühlt, viel mehr als im Speicher an der Großen Reichenstraße, manchmal sogar mehr als in der Holländischen Reihe.
    Es war kalt, Moritz zog fröstelnd die Schultern hoch. Er tastete nach dem wertvollen Stück in seiner Tasche, sorgfältig eingepackt in Tücher und mit einem Kabelgarn umwickelt. Sein Blick strich wieder über die leeren Wände. Er hätte auf Anhieb sagen können, wo das Krokodil gehangen hatte, wo die Peitsche, wo die Bola. Plötzlich kamen ihm die Tränen. Das Leben ist wie ein   … wie ein   … wie ein Pferdeomnibus, dachte er. Doch ich sitze nicht drin, ich bin der Invalide an der Straßenecke. Ich stehe auf meinem Holzbein, ich komme kaum vorwärts   – und der Pferdeomnibus, vollbesetzt mit Menschen, die ich kenne und die ich mag, fährt an mir vorbei. Nicht mal zwei Monate habe ich hier gearbeitet. Kaum zu glauben, wie wenig das ist gegen all die Jahre zuvor. Und nun kehre ich wieder zurück in diesen dunklen Speicher und muss mich ducken unter dem Blick von Harms.
    »Nanu, Moritz, so nachdenklich?«, fragte eine tiefe Stimme. Moritz schreckte aus seinen Gedanken hoch. In der Tür stand der Klabautermann. Moritz hätte ihn fast nicht wiedererkannt.Kapitän Westphalen trug einen Anzug in hellem Grau, dazu die bei Segelschiffskapitänen übliche Melone. Er hatte sich die Haare schneiden und wohl auch den Bart stutzen lassen.
    »Ich schaue mich nur noch ein bisschen um«, sagte Moritz mit belegter Stimme, »ein letztes Mal.«
    »Abschied nehmen ist nie gut. Muss aber manchmal sein.«
    »Wann segeln Sie los?«
    »Morgen früh, wenn der günstige Wind anhält.«
    Moritz deutete auf das Stehpult. »Das ist wohl vergessen worden. Soll ich es durch einen Jollenführer an Bord bringen lassen?«
    »Nein, Moritz, das hat Hinrich für dich gebaut, es gehört dir. Du kannst es mit ihm zusammen zur Großen Reichenstraße tragen. Er müsste bald von der H ENRIETTE zurück sein.«
    Moritz Herz tat einen Hüpfer, allerdings nur einen kleinen, traurigen. Er bedankte sich nicht, weil er seiner Stimme nicht traute.
    »Wir wollen spazieren gehen«, sagte Kapitän Westphalen, »beim Gehen wird das Denken klarer.«
    Moritz passte seine Schritte denen des Klabautermanns an. So gingen sie nebeneinander her, der große, hagere Mann und der Junge mit dem traurigen Blick. Am Baumhaus blieb Kapitän Westphalen stehen. Er blickte über die Elbe zu den Schiffen an den Pfählen.
    »Du hast etwas, was nicht viele haben, Moritz«, sagte er unvermittelt. »Du kennst das Lagereigeschäft, du kennst den Hafen und die Schiffe, und bald wirst du Commis sein. Dann hast du sozusagen zwei Berufe. Menschen mit mehreren Begabungen sind hoch geachtet.«
    Es wurde langsam dunkel. Sie gingen zurück. Kapitän Westphalen blieb auf halbem Weg stehen und schaute mit grimmigem Blick zu Moritz hinunter. »Du wirst eine große Reise machen, Moritz. In ein
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