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Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)

Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)

Titel: Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
Autoren: Jürgen Rath
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paar Jahren, wenn du ein erfahrener Commis geworden bist.«
    »Große Reise machen?«, echote Moritz verwundert.
    »Ja, eine sehr weite Reise. Nach Buenos Aires. Du wirst bei mir arbeiten. Als Waterclerk. Du wirst für die Befrachtung der Schiffe zuständig sein. Hast du verstanden?«
    Moritz konnte wieder nichts sagen, denn er hatte immer noch Probleme mit seiner Stimme.
    »Das ist ein Befehl!«, schnarrte der Klabautermann.
    »Aye, aye, Sir!«
    Moritz schleppte das Stehpult nach draußen, stellte es neben dem Haus ab und wartete auf Hinrich Quast. Der kam nicht. Moritz schlenderte auf die andere Seite des Hauses und blickte zu den Vorsetzen hinüber. Gegen den Abendhimmel sah die Hebemaschine, die in den letzten Tagen aufgerichtet worden war, fast fertig aus. Die beiden Träger standen bereits, nach den Seiten durch kräftige Balken abgesteift. Auch die obere Verbindung zwischen den Trägern war von den Zimmerleuten der Elbrand-Werft fertiggestellt worden. Zum Schutz der Seile und der Blöcke gegen die feuchte Witterung hatte man ein Dach über die Verstrebung gebaut. Insgesamt war es ein hohes, massives Bauwerk geworden. Wie ein Kran sah es jedoch nicht aus, eher wie die Tordurchfahrt in einem Vierländer Bauernhof. Moritz schüttelte ungläubig den Kopf. Wegen dieser Tordurchfahrt hatten zwei Menschen sterben müssen, und Roger Stove war im Gefängnis gelandet. Ob das die Sache wert war?
    Hinrich Quast war immer noch nicht zurück. Moritz verscheuchte eine Katze, die es sich auf der Bank an der Hauswand bequem gemacht hatte. Er setzte sich, starrte auf den dunklen Binnenhafen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Vor seinen Augen tauchte ein Fähranleger mit dem Schild »Buenos Aires« auf, dann Kapitän Westphalen, der vom Heck der H ENRIETTE winkte. Das Bild verblasste schnell, doch Moritz konnte die Stimme des Klabautermanns weiterhin vernehmen.
    Jetzt höre ich schon Stimmen, dachte er.
    Es waren tatsächlich Stimmen, sie kamen aus dem Kontor. Caesar Schröder und Kapitän Westphalen verglichen offenbar dieLadungslisten mit den Konnossementen. Dann war Ruhe. Moritz blickte zur Elbe und fragte sich, warum Hinrich Quast so lange wegblieb. Die Stimmen waren wieder zu hören, jetzt ganz nah und deutlich, direkt hinter der Kontortür.
    »Du hast dir reichlich Zeit gelassen, Harry«, sagte der Patron gerade.
    »Das stimmt. Ich hatte das Ziel aus den Augen verloren. Doch als vor einem Jahr der Lehrling auftauchte, dieser Moritz, da wusste ich wieder, was zu tun war.«
    »Du hast eine schwere Schuld auf dich geladen. Für die Anstiftung zum Mord wirst du in die Hölle kommen.«
    Schweigen. Moritz wollte nichts mehr hören, er wollte wegrennen, irgendwohin, ganz weit weg von diesem schrecklichen Ort, doch die Stimme von Kapitän Westphalen hielt ihn fest.
    »Mein Gewissen ist rein, Caesar. Das, was ich für Elbrand vorgesehen hatte, ist wenig gegenüber dem, was er mir angetan hat.«
    Mit einem Ruck war Moritz von der Bank gesprungen. Er rannte los, Tränen in den Augen, achtete nicht auf die Richtung, nicht auf die Menschen, die er anrempelte. Schließlich fehlte ihm die Luft, er musste anhalten.
    Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, blickte er sich um. Er stand inmitten eines Gewirrs von Balken, Brettern und Latten, hoch über ihm drohte ein provisorisch errichtetes Dach. Die Hebemaschine, dachte er bitter. Er setzte sich auf einen der dicken Fundamentbalken und starrte durch die Ritzen der hölzernen Vorsetzen auf das glucksende Elbwasser unter ihm.
    Da saß er nun. Das Knäuel seiner Gedanken entwirrte sich nicht, doch es wurde kleiner, verblasste mit der Zeit und machte einer endlosen Leere Platz. Nicht grübeln, nur sitzen, immerzu, so tropfte ein letzter Rest an Gedanken durch sein Bewusstsein. Nicht bewegen, an nichts denken, nicht an die Eltern, nicht an den Bruder, nicht an Jette oder Cäcilie, einfach nur sitzen bleiben, Tag für Tag, Monat für Monat, jahrelang. Die Sonne und der Regen würden seine Kleidung ausbleichen, in ein eintöniges Grau verwandeln,schließlich wäre er wie Granit   – kalt und hart, unzerstörbar und schwer, niemand könnte ihn beiseiteschaffen. Er würde zum Denkmal eines einsamen, verlassenen, verratenen, unglücklichen Kontorlehrlings werden. Die anderen einsamen, verlassenen, verratenen und unglücklichen Kontorlehrlinge würden zu ihm pilgern und Blumen und Glasmurmeln zu seinen Granitfüßen legen.
    Es tropfte, aber regnete nicht. Er weinte und konnte nicht aufhören.
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