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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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fragte Estrada und öffnete eine Art Klappe in der langen Stoffbahn neben uns. »Wenn es hart auf hart ging, wenn ich das Gefühl bekam, zu viel von den Leuten zu verlangen … Dann überraschten sie mich immer wieder.«
    Ich nickte. »Ich verstehe, was du meinst.«
    Estrada deutete durch die Öffnung. »Sollen wir uns anhören, was Salzleck zu sagen hat?«
    Sie ging voraus, und kurze Zeit später waren wir wieder in Sichtweite des Tors. An der Böschung standen überall Riesen und bildeten lockere Gruppen. Unten am Hang, in sicherem Abstand vom Gedränge, wartete Alvantes. Ein dicker Verband aus grobem, grünlichem Stoff war um seinen verletzten Arm geschlungen, und unter die andere Schulter hatte er sich eine Krücke geklemmt. Das Gesicht war sorgfältig gereinigt und zeigte zahlreiche Kratzer und blaue Flecken. Doch im Großen und Ganzen sah er viel besser aus als bei unserer letzten Begegnung.
    Er nickte einen knappen Gruß, als wir uns näherten. »Sie streiten über etwas«, sagte er. »Aber ich weiß beim besten Willen nicht, worum es geht.«
    Salzleck stand ganz oben auf der Böschung, zusammen mit einem Dutzend Riesinnen, unter ihnen seine Mutter. Sie redeten alle gleichzeitig, aber es war klar, dass Salzleck das Gespräch leitete. Allein das erstaunte mich. Es lag eine gewisse Anspannung in der Luft, die Alvantes’ Worte bestätigte, und Salzlecks Mutter wirkte besonders aufgeregt.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Estrada.
    Salzleck nickte. »Ihnen gesagt, euch sagen. Gehe und suche Brüder. Nach Hause bringen. Kein Kampf mehr.«
    Mutter Salzleck kam näher und umklammerte wie flehentlich seinen Arm.
    Er vermied es, direkt den Blick auf sie zu richten, als er sagte: »Mutter traurig. Sohn kommt, Sohn geht. Aber muss gehen.«
    »Was ist mit dem Stein? Glaubst du, die anderen folgen dir auch ohne den Stein?«
    Salzlecks Gesicht wies mich darauf hin, dass ich einen wunden Punkt berührt hatte. »Muss versuchen«, erwiderte er. »Einzige Möglichkeit.«
    Armer Salzleck. Er hatte sich so über die Rückkehr nach Hause gefreut, und jetzt musste er wieder los. Aber wenigstens war er heimgekehrt. Was mich betraf … Meine Entscheidung stand bereits fest. »Ich komme mit. Ich meine, ich begleite dich nicht unbedingt, um dir bei der Rettung deiner Freunde zu helfen, aber ein Stück des Weges komme ich mit.«
    Und so verabschiedeten wir uns. Was Estrada, Alvantes und mir nur ein wenig Unbehagen bescherte, war für Salzleck geradezu herzzerreißend. Mir wurde klar, dass die Riesinnen ihre Männer bisher für tot gehalten und an ein Wunder geglaubt hatten, als Salzleck zurückgekehrt war. Seine Mutter vergoss Tränen in Strömen, wie auch viele andere Riesinnen. Es gab massenhaft Umarmungen und gute Wünsche. Salzleck stand wie ein Monolith in diesem wild wogenden Meer aus Emotionen. Ich wusste, dass er die anderen zu beruhigen versuchte, obwohl ich seine Worte nicht verstand. Schließlich nahm er seine Mutter noch einmal in die Arme und kam dann zu uns; wir warteten schon seit einer ganzen Weile am Tor.
    »Bereit?«, fragte Estrada.
    »Bereit«, bestätigte er.
    Der Weg nach unten war viel leichter als der Aufstieg.
    Wir ließen uns Zeit, obgleich Salzleck Eile sicher lieber gewesen wäre, und machten oft Rast, damit Alvantes ausruhen konnte. Spät am Nachmittag erreichten wir die Spalte auf halbem Weg zum Talboden. Ich juchzte vor Freude, als ich sah, dass unsere Pferde noch da waren – in einer meiner Schreckensvisionen waren sie den steilen Hang hinabgestürzt.
    Es kränkte mich, dass Killer Alvantes mit weitaus mehr Freude begrüßte als meine Wenigkeit. Er wieherte wie irre, bis Salzleck einen kleinen Ballen Heu aus einem der Pakete holte, die er trug, und zwischen den Pferden aufteilte, woraufhin der Hengst das Wiedersehen vergaß. Nachdem die Pferde gefressen hatten, gaben wir ihnen Wasser und striegelten sie, so gut es ging.
    Inzwischen war es fast dunkel, und uns blieb nichts anderes übrig, als das Nachtlager aufzuschlagen. Trotz meiner Müdigkeit lag ich lange wach, sah zu dem Teil des Himmels hoch, der sich zwischen den Felswänden zeigte, und beobachtete die funkelnden Sterne. Ich fühlte mich kleiner als jemals zuvor in meinem Leben, und die Welt erschien mir gewaltiger, viel größer als nur das Castoval oder selbst das Königreich.
    Ich erinnerte mich daran, was ich Estrada in den Höhlen hinter Muena Palaiya gesagt hatte: »Für mich bin ich ein großer Teil eines Bildes, das nur wenig größer
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