Im Schatten der Giganten: Roman
andere über den steilen, felsigen Weg kletterte. Zumindest nahm ich an, dass es ein Weg war. Ich sah keinen, aber Salzleck schien in der Lage, sich zu orientieren, und ich folgte seinen Schritten so gut es ging. Wenn ich auch nur ein bisschen vom »Weg« abkam, stolperte ich über irgendein Hindernis oder verlor auf lockerem Geröll den Halt.
Meine erste Schicht zu Fuß dauerte bis gegen Mitternacht. Ich erinnere mich daran, dass der Mond direkt über mir hing, ein großes, leuchtendes Pendel, das jeden Moment auf mich herabfallen konnte. Salzleck stieg über einen besonders großen Felsen, wodurch Estrada aufwachte; sie bestand darauf, dass wir die Plätze wechselten.
Meine zweite Schicht begann kurz vor Sonnenaufgang. Ich wachte auf und sah, wie sich Estrada neben Salzleck abmühte, woraufhin mich Schuldgefühle packten. Als ich ihren Platz einnahm und sie meinen, bereute ich meine edle Zuvorkommenheit bereits, aber es war zu spät. Estrada schlief in Salzlecks Armen, und ich wankte am Beginn eines neuen Tages vorwärts.
Es war ein prächtiger Sonnenaufgang, der beeindruckende Farben am Himmel schuf, verschiedene Schattierungen von Scharlachrot und Orange, dazu hübsche rosafarbene Töne. Es störten nur die dunklen Flecken – Moaradrids Männer. Sie verfolgten uns noch immer. Aber sie waren nicht näher gekommen. Dank Salzleck hatten wir unseren Vorsprung während der Nacht bewahrt.
Eines musste man uns dreien lassen: Wir verstanden es zu überleben. Als Salzleck diesen Moment wählte, um mit der Hand auf eine Lücke zwischen den Gipfeln weiter oben zu deuten und »Zuhause« zu flüstern, konnte ich ein Lachen nicht zurückhalten. Obwohl sich Moaradrid und das Schicksal gegen uns verschworen hatten – wir waren dem Ziel nahe.
Das letzte Stück über den Hang des Berges empfand ich fast als angenehm. Der Aufstieg war so mühsam wie zuvor, aber wenigstens konnte ich das Gelände jetzt deutlich sehen, und außerdem … was spielte es für eine Rolle? Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein Versprechen gehalten. Es war ein gutes Versprechen gewesen, und ich hatte es gehalten. Dieser Sieg erschien mir in meiner müden Benommenheit viel wichtiger als die wilden Kämpfe im Tal. Ich kletterte plötzlich mit Genuss und lächelte voller Schadenfreude beim Gedanken daran, wie sehr Moaradrids Männer weiter unten litten. Sie hatten keinen Riesen, der ihnen half, und auch keinen kleinen Triumph, der ihre Stimmung hob.
Eine ganze Weile kletterten wir über breite, hohe und mit Felsbrocken übersäte Stufen. In der Nähe des Gipfels wichen sie einem weiten Hang aus lockerem Geröll, und wenn es dort überhaupt einen Weg gab, dann war er so tückisch wie der Rest des Aufstiegs. Ich stolperte häufig und musste die Finger jedes Mal tief in den Felsschutt bohren, um nicht in die Tiefe zu rutschen. Selbst Salzleck musste sich anstrengen, was vielleicht daran lag, dass er seine Hände nicht benutzen konnte. Estrada klagte leise im Schlaf, wenn er ausrutschte.
Die Öffnung zwischen den Gipfeln war verlockend nahe. Estrada murmelte etwas, und ich dachte, es wäre doch schade, wenn sie den Moment von Salzlecks Heimkehr verschlafen würde.
»Wach auf!«, rief ich. »Wir sind fast da.«
Sie schüttelte den Kopf und wand sich hin und her, woraufhin Salzleck sie absetzte. Verwirrt rieb sie sich die Augen und schien noch nicht ganz wach zu sein.
»Was? Wo sind wir?«
Ich streckte die Hand aus.
Sie blickte in die Richtung, aus der wir gekommen waren, zu den dunklen Flecken, die unsere Verfolger darstellten.
Estrada lächelte, und ihr Lächeln wuchs in die Breite, wurde zu einem Grinsen. Dann lachte sie. »Wir haben es geschafft. Nach allem, was wir hinter uns haben …« Das Lächeln verschwand. »Nach allem, was geschehen ist.«
Ich glaubte fast, die Erinnerungsbilder in ihren Augen zu sehen: die erste schreckliche Schlacht, die inzwischen Tage zurücklag, Panchettos Tod, der Kampf in der Schlucht und Alvantes’ grässliche Verwundung. Aber an all diesen Geschehnissen ließ sich jetzt nichts mehr ändern, und ich wollte mir meine gute Stimmung nicht verderben lassen.
Ich gab Salzleck einen Klaps auf den Oberschenkel und sagte: »Also los, geh voraus.«
Der Riese brauchte keine Extraeinladung und kletterte sofort zur Spalte weiter oben. Ich folgte ihm und achtete darauf, wohin ich den Fuß setzte. Estrada schloss sich mir nach kurzem Zögern an. Als wir Salzleck erreichten, stand er auf der Felsnase zwischen zwei
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