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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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keinen großen Unterschied machen, oder?«
    Ich konnte mich ihrer Logik kaum entziehen. Außerdem war ich zu erschöpft für eine lange Diskussion. »Vielleicht sollten wir eine Minute darüber nachdenken.«
    »Wir können keine Minute entbehren. Sei vernünftig, Damasco.«
    »Vernünftig?« Es klang fast wie ein Schluchzen. »Wo kommt hier die Vernunft ins Spiel? Wir sind den ganzen Tag auf der Flucht gewesen, und ich bin erledigt! Meine Beine wollen einfach nicht mehr. Ich bin nicht dafür geschaffen, ein Held zu sein. Bitte, lass uns ein wenig ausruhen.«
    Ich rechnete damit, dass sie mich zusammenstauchte, dass sie mir Egoismus und Feigheit vorwarf. Ich rechnete mit einem Streit. Ich rechnete nicht damit, dass Salzleck antwortete, bevor Estrada Gelegenheit dazu bekam. »Salzleck tragen.« Die beiden Worte kamen aus der Düsternis am Ende der Spalte und hallten dumpf von den Wänden wider. »Nach Hause.«
    »Was?«
    »Salzleck tragen.« Er trat in das spärliche Licht, das durch die Spalte in die Höhle drang, kniete sich hin und brachte die Hände zu einer Art Steigbügel zusammen.
    »Soll das ein Witz sein?«
    »Tragen. Nicht müde. Nach Hause.«
    So viele Worte hintereinander hatte ich noch nie von Salzleck gehört. Es gab auch einen neuen Ton in seiner Stimme; selbst seine einsilbige Grammatik konnte nicht über Sehnsucht hinwegtäuschen. Ich hätte ihm gern gesagt, dass alles in Ordnung war und ich weitergehen konnte, aber das wäre gelogen gewesen. Was ich gerade Estrada gesagt hatte, entsprach voll und ganz der Wahrheit. Ich war absolut geschafft; die Muskeln in Oberschenkeln und Waden schienen aus Eis zu bestehen, das in einem Feuer schmolz.
    »Na schön.«
    Ich ließ mich von Salzleck hochheben. Ich hatte gedacht, dass es peinlich sein würde, aber als meine Füße den Boden verließen, empfand ich nur Erleichterung. Mir fielen die Augen zu, und weiche Dunkelheit hüllte mich ein.
    »Damasco, du kannst doch nicht … ich meine …«
    Ich fühlte, wie sich Salzleck aufrichtete. Er hielt mich so vorsichtig wie eine Mutter ihren Säugling.
    »Schon gut«, murmelte ich. »Nur für eine Weile. Dann kommst du an die Reihe, versprochen.«
    »Darum geht es nicht. Er wird schnell müde, wenn er dich tragen muss.«
    Ich entspannte mich und ließ meinen Körper erschlaffen, der bei jedem Schritt mitschwang, als Salzleck losging.
    »Es ist alles in Ordnung, wirklich.«
    »Damasco …«
    Ich erwachte unter einem Samthimmel mit zahllosen funkelnden Sternen.
    Der Mond war fast voll und leuchtete durch zarte Wolkenschleier. In seinem Licht schienen die Felsen aus Alabaster zu bestehen, der von innen heraus glühte und ein wenig unwirklich anmutete. Es gab keinen Übergang vom Schlaf zum Wachsein, und es fehlte jeder Hinweis darauf, was mich geweckt hatte. Vage erinnerte ich mich an tiefen, traumlosen Schlaf. Ich nahm einen moschusartigen Geruch wahr, wie von feuchtem, warmem Stroh, und atmete ihn tief ein, bis ich begriff, dass er von einem ungewaschenen Riesen stammte.
    Plötzlich fiel mir ein, wo ich mich befand.
    »He, he … setz mich ab, Salzleck.«
    Er blieb stehen, beugte die Knie und setzte mich auf den Boden.
    »Besser?«
    Ich dachte darüber nach. Der ganze Leib tat mir weh, vom Kopf bis zu den Zehen, aber im Vergleich mit der tauben Erschöpfung zuvor fühlte sich das fast angenehm an.
    »Ja. Ich spüre wieder meine Füße.«
    »Leise, Damasco. Sie sind in der Nähe.«
    Ich erkannte Estradas Stimme, trat um Salzleck herum, sah sie und schnappte nach Luft – ihr Gesicht war hohlwangig und leichenblass. »Salzleck«, sagte ich leise, »kannst du sie tragen?«
    »Ja. Nach Hause.«
    »Ich muss nicht getragen werden, Easie.«
    »Dann los, Salzleck. Als dein Oberhaupt befehle ich es dir – egal, was sie dir sagt.«
    »Damasco, du …«
    Estrada bekam keine Gelegenheit, den Satz zu beenden, bevor Salzleck sie hochhob. Sie starrte auf mich herab und schien zu überlegen, ob sie versuchen sollte, sich zu befreien.
    »Hör wenigstens einmal auf die Stimme der Vernunft. Er kommt damit klar.«
    »Nicht müde«, pflichtete Salzleck mir bei. Eigentlich konnte das nicht stimmen, aber es klang so, als meinte er es ernst.
    »Easie«, murmelte Estrada.
    »Still.«
    Und dieses eine Mal gab sie keine Widerworte. Estrada schlief bereits.
    »Also gut, Salzleck«, flüsterte ich. »Auf geht’s.«
    Während jener endlosen Nacht wechselten Estrada und ich zweimal die Plätze – einer von uns wurde getragen, während der

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