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Im Ruecken steckt das Messer - Geschichten aus der Gerichtsmedizin

Titel: Im Ruecken steckt das Messer - Geschichten aus der Gerichtsmedizin
Autoren: Hans Bankl
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nicht. Mit Einschmeicheln durch Süßigkeiten und schrecklichen Drohungen wurden von einer voreingenommenen Untersuchungsbehörde den Söhnen des Joseph Scharf, dem 5-jährigen Samuel und dem 14-jährigen Moritz, Aussagen entlockt bzw. einfach vorgehalten, die zu einem Geständnis führten: »Mein Vater, der Synagogendiener Joseph Scharf, rief die Esther Solymosi von der Straße in unser Haus. Ein bei uns wohnender jüdischer Bettler führte sie in die Synagoge, streckte sie daselbst zu Boden und entkleidete sie bis auf das Hemd. Zwei Männer hielten die Esther fest, der Schächter Schwarz aber schnitt ihr mit einem Messer den Hals durch. Das Blut wurde aufgefangen und in einen Topf geschüttet. Ich sah durch das Schlüsselloch und konnte alles wahrnehmen...«
    Der Untersuchungsrichter Bary und der Reichsratsabgeordnete Onodi waren selbst so sehr von der Tatsache eines jüdischen Blutrituals überzeugt, dass sie das, was Moritz dahergeredet hatte, für völlig glaubhaft hielten. Daher verhaftete Bary an den verschiedenen Orten des Bezirkes all jene jüdischen Bürger, die mit Scharf in Verbindung standen. Sie beteuerten ausnahmslos,
nichts von den angeblichen Vorgängen zu wissen. Scharf weigerte sich zu glauben, dass Moritz wirklich jene Aussagen gemacht hätte. Auch alle anderen Verhafteten behaupteten, gleich nach dem Gottesdienst heimgegangen zu sein, zu einer Zeit also, da Esther Solymosi sich noch auf dem Wege befand und gesehen wurde. Ihre Familien legten Zeugnis für sie ab. Doch Bary beachtete diese Zeugnisse nicht.
    Schon die ersten Meldungen aus Tisza-Eszlàr fielen angesichts des in Österreich-Ungarn weit verbreiteten Antisemitismus auf günstigen Boden. Die Zeitungen waren voller Berichte und Kommentare. Juden wurden misshandelt, jüdische Häuser geplündert, christliche Dienstboten verließen jüdische Häuser aus Angst, ermordet zu werden. Bary erhielt zahllose Zuschriften, die ihn in seiner Haltung bestärkten. Unbekannte übersandten ihm angebliche jüdische Rezepte über die »beste Art, ein Mahl mit dem Blute christlicher Jungfrauen zuzubereiten«. Bary heftete diese Rezepte zu den Untersuchungsakten, wo sie erhalten geblieben sind. Polizeitrupps durchwühlten das Gelände der Synagoge, die Keller in den Häusern aller Verhafteten wurden geöffnet, selbst Weinfässer auf der Suche nach dem Leichnam Esther Solymosis zerschlagen.
    So weit war die Sache gediehen, als am 18. Juni 1882 ein Ereignis eintrat, das alles bisher Geschehene in den Schatten stellte: Flößer zogen einen Leichnam aus der Theiß, es war ein Mädchen. Bauernburschen erkannten Esther sofort und verbreiteten die Nachricht, ihr Hals sei unversehrt, also könne sie nicht von den Juden getötet worden sein.
    Die Judenschaft im ganzen Lande atmete schon erleichtert auf und man schickte sich an, die ungewöhnlich hohe Ergreifprämie auszuzahlen, welche von Ungarns jüdischer Bevölkerung für denjenigen ausgesetzt worden war, der Esther lebend oder tot herbeischaffte. Ihre Freude war aber verfrüht. Bary ließ Esthers Leichnam, um ja nicht von ihrer Bekleidung beeinflusst zu sein,
unbekleidet zur Agnoszierung ausstellen. Zu jenen streng sittsamen Zeiten hätten fremde Leute ein junges Mädchen nackt kaum zu identifizieren vermocht, auch hatte sie zu starker Ekel gepackt, als dass sie an der stark verwesten Leiche noch hätten Erkennungszeichen entdecken können. Esther wurde schließlich von dem Apotheker des Ortes und von ihrer Freundin eindeutig erkannt. Letztere schrie entsetzt auf und bekreuzigte sich, als sie auf Esthers rechter großen Zehe die von einem Kuhtritt herrührende Narbe wiederentdeckte. Bary verabsäumte aber, diese zuverlässigen Wahrnehmungen im Protokoll aufzunehmen. Hätte er der Gerichtsbehörde und der Verteidigung diese eindeutigen Wahrheitsbeweise nicht vorenthalten, so hätte das ganze Verfahren unter Umständen alsbald eingestellt werden können. Stattdessen war er bestrebt, den Beweis zu erbringen, dass die Leiche keineswegs diejenige Esthers, sondern die irgendeines fremden Individuums sei. Und es hatte sich für diesen Plan auch gleich ein teuflischer Anlass geboten.
    Frau Solymosi hatte zwar ihre Tochter nicht identifiziert (Onodys Schwester hatte sie davon abgehalten!), dafür aber daheim aufbewahrte Stoffreste aus ihrer Bekleidung herbeigeschafft. Deswegen schien es Bary einleuchtend zu sein, dass die Juden eine fremde Leiche in Esthers Kleider gesteckt hatten, welche dann von den Flößern
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