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Im Papierschiff bis nach Irland (German Edition)

Im Papierschiff bis nach Irland (German Edition)

Titel: Im Papierschiff bis nach Irland (German Edition)
Autoren: Gabriele Kowitz
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Oder
heißt die Frage eher, was wohl die schlimmen Wörter mit dem Wandschrank machen?
Vielleicht hat der Schrank an seiner Rückseite eine Türe, durch die alle
schlimmen Wörter hinausgeschickt werden in eine andere Welt, in der sie sich
bessern müssen. Erst wenn sie nicht mehr schlimm sind, dürfen sie wiederkommen.
Jeden Morgen wird die Vordertüre des Wandschranks geöffnet, und die Wörter, die
sich gebessert haben, kehren zurück in unsere Welt. Alle anderen müssen noch
weiter im Schrank bleiben. Oder könnte es sein, dass sich Wörter im Dunkeln
fürchten? Haben sie Angst, wenn sie die Nacht im Wandschrank verbringen müssen?
Bestimmt ist es nicht sehr bequem, mit vielen anderen in einen Wandschrank
gesperrt zu sein. Oh, was geschieht, wenn ein Wort Platzangst bekommt? Ist das
die gerechte Strafe fürs schlimm sein? Sollen die Wörter auf diese Weise
bereuen und sich bessern? Dürfen sie am nächsten Morgen alle wieder hinaus?
Oder mag es sein, dass die Wörter anfangen, sich zu langweilen? Besonders die,
die schon lange im Schrank sind. Sie erfinden Spiele. Sie spielen Scrabble.
Wörter bestehen schließlich aus Buchstaben, die man alle auf einen großen
Haufen werfen kann. Dann können sich neue Wörter bilden. Morgens dürfen alle
neuen Wörter, die nicht mehr schlimm sind, den Wandschrank verlassen. Oder
womöglich streiten die Wörter im Wandschrank untereinander. Böse sind sie ja
allemal, denn sonst wären sie gar nicht erst hineingelangt in den Wandschrank.
Die Wörter schreien sich an. Ich versuche mir vorzustellen, wie laut es wäre,
nachts, wenn ich schlafen will. Die Wörter schlagen sich. Ich versuche mir
vorzustellen, wie es poltert, nachts, wenn ich schlafen will. Schon muss ich
den Wandschrank wieder aufschließen, um neue Wörter hineinzustecken, denn wenn
ich stundenlang beim Einschlafen gestört werde, kann ich schon mal etwas
ausfallend werden, verbal meine ich. Und da haben wir den Salat, der Streit
geht nur umso heftiger weiter, denn jetzt sind noch mehr schlimme Wörter drin,
im Wandschrank. Es poltert heftiger, das Geschrei nimmt zu, ich stopfe weiter
Wörter in den Schrank … So lange bis, ja, bis sich die Wörter gegenseitig
erdrückt haben. Dann endlich ist Ruhe. Bis zum nächsten Morgen. Wenn wieder
gestritten wird. Nein, kein Streit im Wandschrank, sondern davor.
    „Mama, die
Lehrerin hat nicht gesagt, dass wir Wörter in den Wandschrank sperren sollen,
sondern dass wir diese Ausdrücke, naja, du weißt schon welche, nur nachts im
Wandschrank sagen dürfen! Du hast mir nicht richtig zugehört.“ Ich unterdrücke
eine Erwiderung – schließlich hat meine Tochter ja Recht, ich habe nicht
richtig zugehört! „Schlimme“ Wörter dürfen nur nachts im Wandschrank gesagt werden.
Ich denke erneut nach, aber schon habe ich wieder Fragen zur
Wandschrankpädagogik: Was, wenn mir gerade jetzt nach dem „Sch …-Wort“ zu Mute
ist? Ich darf es aber nur nachts im Wandschrank sagen. Also schweige ich. Meine
Wut verraucht nicht. Sie staut sich. Sie staut sich den ganzen Tag. Sie staut
sich auch noch am Abend. Erst wenn es Nacht wird, eile ich zum Wandschrank und
lasse sie heraus. Komme ich überhaupt noch zum Schlafen oder schimpfe ich ganz
lange laut vor mich hin, tobe und wüte, ohne dass mir jemand zuhört, ohne dass
es jemanden stört? Hat das Schimpfen denn dann überhaupt noch Sinn? Nein, es
hätte keinen Sinn. Und nein, ich wäre natürlich nicht allein. Natürlich treffe
ich alle anderen Familienmitglieder ebenfalls vor dem Wandschrank, denn auch
sie warten schon den ganzen Tag darauf, sich endlich austoben zu dürfen. Der
nächste Konflikt steht unausweichlich bevor: Wer darf zuerst in den
Wandschrank? Oder sollen alle gleichzeitig hinein? Dann wird es aber eng … Wir
stehen uns gegenseitig auf den Füssen, vielleicht gibt es sogar blaue Augen!
Nein, nein, das scheint mir auch nicht der rechte Weg zu sein. Ich erkläre dem
Rest der Familie, dass wir vielleicht bald einen Wandschrank anschaffen werden,
damit wir keine „schlimmen“ Wörter mehr sagen, wenn wir sie nicht sagen
sollten. Bevor ich noch dazu komme, die Schwierigkeiten, die sich in der
praktischen Anwendung des Wandschranks ergeben können, vorzutragen, fragt mein
Mann: „Was soll ich denn sagen, wenn ich sauer bin? Man muss doch Dampf
ablassen können! Nachts will ich schlafen – und zwar nicht im Wandschrank.“
    „Wandschrank“,
antwortet mein Sohn spontan, „sag doch einfach Wandschrank.“ Nach
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