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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman
Autoren: Amanda Coplin
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sie sagten nicht »Liebe« und nicht »wunderschön«, ja ihre Sprache war überhaupt wenig ausdrucksstark. Manchmal, wenn er den Himmel bei Abenddämmerung sah, bezeichnete er ihn vielleicht als »hübsch«, und sie nickte zustimmend ein Mal mit dem Kopf. Wenn sie einen Raum betrat, in dem er sich aufhielt, oder er in eine Baumreihe kam, wo sie gerade arbeitete, grüßten sie sich nicht mit Worten, sondern berührten mit den Augen ein Körperteil des anderen und konnten sich gegenseitig am Gesichtsausdruck oder an der Haltung ablesen, ob sie zufrieden oder erschöpft oder beunruhigt waren und ob sie sich über das Wetter oder die Gegenwart des anderen freuten. Sie spürten diese Dinge intuitiv, so wie es einem mit dem eigenen Körper geht: ohne nachzudenken.
    In letzter Zeit nahm sie oft seine Hand, wenn sie sich zu ihm auf die Bettkante setzte, beugte sich vor und küsste seine Augenbrauen, jede einzeln, aber so unsentimental, wie man einen Krampf im Bein eines anderen massiert.
    Er wachte allein in der Hütte auf, vor sich die mit Nachmittagslicht bedeckte Wand. Allgegenwärtig war das Geräusch des Bachs – jenes Bachs, der aus dem Gebirge kam und in den Fluss nördlich von Wenatchee mündete –, und vor diesem Grundgeräusch hörte er das Zittern der Eschen im Wind. Die Bäume begrenzten die Weide, deren Halme, ungemäht und nicht von Pferden abgegrast, hoch standen. Das Geräusch des Wassers und des Winds in den Bäumen, die vom Bach gespeist wurden und so an ihm teilhatten, begleitete Talmadge, wenn er schlief und wachte. Es war ein sehr sprechendes, mitteilsames Geräusch. Er lauschte und dachte, Ja, ja.
    Talmadge, sagte Angelene. Es hatte den ganzen Abend gedauert, bis ihr eingefallen war, was sie sagen wollte. Sie saß auf dem Bettrand. Heute Abend hat der Himmel die Farbe junger Pflaumen …
    Am Morgen verließ sie die Hütte, um Walnüsse zu pflücken, und wie an den letzten drei Tagen trat sie vorher an sein Bett beim Ofen, beugte sich vor und horchte auf seinen Atem. Sie hörte nichts, doch dann seufzte er. Sie stand auf.
    Draußen war es still. Das Licht, so klar wie Wasser, zeichnete Schatten von eingerollten, winzigen Blättern auf den Boden. Im Gehen schaute sie zum Himmel, der tiefblau war. Wolkenlos.
    Im hinteren Apfelgarten lagen die Bäume im Schatten, die Sonne stand über der Canyonrundung und erleuchtete die Walnussbäume. Sie kletterte auf die Böschung, begann mit dem Pflücken und bemerkte, dass ihre Hände sich verändert hatten. Sie waren rau. Sie beugte die Finger in der Kälte. Sie würde Pflaumenmarmelade mit Walnüssen und Rosinen kochen, die sie und Talmadge dann im Winter essen könnten. Sie würden sie auf Toast essen oder, wenn sie Heißhunger bekamen, mit dem Löffel.
    Eine Welle der Übelkeit erfasste sie, als sie an Talmadge und Heißhunger dachte. In den vergangenen zwei Tagen hatte er nichts gegessen.
    Und dann griff sie nach einer Walnuss und drang in eine Stille vor, in der sie glaubte, Insekten im Gras sirren zu hören, all ihr geheimes, intimes Geflüster. Die Sonne auf der porösen Böschung leuchtete hell, weißglühend, sie ließ die Mineralien glitzern und den trüben Schlamm selbst in seiner Trübheit einzigartig und einmalig scheinen. Jede Pore und Faser, jede Einzelheit war reingewaschen und hervorgehoben, so wie das Gesicht eines Menschen im schonungslosen Licht.
    Als sie zur Hütte zurückkam, sah sie, dass Talmadge gestorben war.

[zurück]
    VIII
    Angelene erinnerte sich an jene stillen Nächte auf der Plantage, wenn sie allein war, weil Talmadge in der Stadt übernachtete oder in Chelan, und sie die Hüttentür öffnete und den Himmel gleich hinter der Veranda sah. Die Sterne so groß und nah, dass man hineinlaufen konnte. Wenn sie sich nur immer an die Sterne erinnern könnte, dachte sie dann, wäre alles gut. Vielleicht würde Schlimmes passieren, Schlimmeres, als sie es sich je vorgestellt hatte, aber die Sterne existierten, und das war jedenfalls gut.
     
    Als sie fünfundzwanzig war, verkaufte sie das Land an einen Mann, der sich am Anbau von Äpfeln versuchen wollte. Er hatte eine Frau und ein kleines Kind. Drei Jahre später kehrte sie zu Caroline Middeys Begräbnis nach Cashmere zurück und fuhr zu ihrem alten Gehöft, um zu sehen, wie die Familie zurechtkam und wie es um die Plantage bestellt war. Sie fand alles leer vor. Die Eingangstür der Hütte war ausgehängt, und im vorderen Zimmer standen fast keine Möbel mehr, nur der Ofen, der alte
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