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Im Land der tausend Sonnen

Titel: Im Land der tausend Sonnen
Autoren: Patricia Shaw
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Nagel in der Wand aufzuhängen. Er musste sich herabbeugen, um sein Gesicht zu sehen, aber es würde schon gehen. Er sprach das Gesicht an, das ihm aus dem Glas entgegenblickte.
            »Nun, Vikar Ritter, da wären wir also. Die Kabine ist ja nichts Tolles, ist kaum als Luke zu bezeichnen, aber wir haben sie wenigstens für uns allein. Wer hätte auch gedacht, dass du zweiter Klasse reist. Die Kirchen haben doch mehr Geld als der König. Da hätten sie ihren Apostel doch wenigstens etwas komfortabler auf die Reise schicken können. Andererseits ist Komfort wohl eher den Bischöfen vorbehalten, und du bist ja nur ein kleiner Fisch. Viel zu beeindruckt von den Heiligkeiten, um dich zu wehren. Ein Wunder, dass du nicht auch noch zu den Flagellanten gehörst. Oder bist du etwa einer? Wie auch immer, wir sind gut an Bord gekommen. Überhaupt kein Problem. Ein Kinderspiel. Und nun werden wir uns hier einrichten.«
            Er warf den Koffer auf die schmale Pritsche, löste die Riemen, um ihn zu öffnen, und entnahm ihm einen Mantel, der obenauf lag.
            »Mir war eiskalt, aber ich konnte ihn nicht anziehen.« Das Gesicht lachte. »Zurücklassen wollte ich ihn aber auch nicht. Ein wirklich guter Mantel. Ein Geschenk, wie du sagtest. Und das wurde dir von Otto Haupt, diesem Schurken, gestohlen. Ein schrecklicher Mensch, Herr vergib ihm! Aber mach dir nichts draus, Friedrich. Du hast es versucht. Du hast dein Brot mit ihm geteilt. Du hast mit ihm gebetet. Du hast dein Bestes getan. Allerdings hättest du ihm niemals den Rücken zukehren dürfen. Schlimmer Fehler. Du warst der Herausforderung einfach nicht gewachsen, obwohl du Jahre damit zugebracht hast, zu studieren und dich auf die Welt vorzubereiten.«
            Er drehte sich um und blickte wieder in den Spiegel.
            »Hörst du zu, Freddy? Es stört dich doch nicht, wenn ich dich Freddy nenne, oder? ›Vikar‹ erscheint mir jetzt ein wenig zu gestelzt. Weißt du, du hast überhaupt keine Erfahrung mit der Welt. Gott weiß, wie es dir am anderen Ende der Welt ergangen wäre. Wärst wahrscheinlich gleich in der ersten Woche von einem Tiger gefressen worden. Oder ein anderer Otto Haupt hätte dich ins Meer geworfen. Du bist einfach viel zu vertrauensselig. Du platzt vor Güte und Heiligkeit und glaubst alles, was man dir sagt. Und dann triffst du auf Otto. Wir nennen ihn einfach Otto, wenngleich das nicht sein richtiger Name, nicht mal sein Künstlername ist.«
            Er durchstöberte den Koffer und warf einzelne Kleidungsstücke hinter sich.
            »Doch einiges von dem, was er gesagt hat, stimmte. Er war Schauspieler, Bühnenkünstler, und zwar ein verdammt guter, wenngleich diese Trottel von Theaterdirektoren einen guten Schauspieler nicht von einem schlechten unterscheiden können. Es stimmt auch, dass er ins Unglück geraten war. Er steckte in der Klemme und war verzweifelt, weil er aus eurem abscheulichen Hamburger Zuchthaus geflohen war … bewaffneter Raubüberfall, kein großes Ding … doch das hat hier keine Bedeutung für uns. Er wollte nach England, aber du hast ihm so begeistert von der Neuen Welt erzählt, wohin du aufbrechen wolltest, wohin so viele von unseren Leuten auswandern, dass du ihn schließlich überzeugt hattest. Tatsächlich. Du hast sie geschildert wie den Garten Eden.«
            Er warf ein Paar Halbschuhe, in denen Socken steckten, Krawatten, Hemden und Unterhosen von sich, hob ein paar Bücher auf und fand darunter einen großen Stoffbeutel.
            »Ah! Was haben wir denn hier?« Während er den Beutel aufschnürte, setzte er seinen Monolog fort.
            »So. Otto dachte, warum zum Teufel mache ich mich nicht vollends aus dem Staub? Verzeih die grobe Sprache. Darauf werden wir Acht geben müssen, wie? Doch der arme Otto hatte kein Geld fürs Essen, geschweige denn für eine Fahrkarte ans andere Ende der Welt, in diese glänzend schöne Welt, mit der du so geprahlt hast. Und je länger er darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Gewissheit, dass dort sein Schicksal wartete. Das verstehst du doch, nicht wahr, Friedrich? Du hast ihm quasi den Weg gewiesen. Du hast ihn in Versuchung geführt. Und direkt vor deiner Tür in dieser dunklen Gasse stand der Schubkarren des Fischverkäufers, den er über Nacht dort abgestellt hatte, das ideale Transportmittel für die eilige Fahrt zum Kornspeicher. Dort nämlich hat Otto für gewöhnlich geschlafen,
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