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Im Land der Orangenbluten

Im Land der Orangenbluten

Titel: Im Land der Orangenbluten
Autoren: belago
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sie etwas falsch machte?
    Die Männer aber beachteten sie zunächst nicht. Herr Lammers schob das Kaffeegeschirr beiseite und öffnete seine lederne Tasche. Er entnahm ihr einen Stapel Papiere, die er sorgfältig vor sich auf dem Tisch ausbreitete. Wilhelm Vandenberg blickte sich kurz pikiert nach Personal um und schenkte sich den Kaffee dann schließlich selbst ein. Den Kuchen, dessen Geruch Julie am Morgen noch das Wasser im Munde hatte zusammenlaufen lassen, ignorierten die Männer. Auch Julie war der Appetit vergangen. Sie zuckte auf ihrem Stuhl zusammen, als Herr Lammers sich an sie wandte.
    »Da Sie, Mejuffrouw Vandenberg, sich nun wieder einer guten Gesundheit erfreuen«, Herr Lammers zögerte kurz, seine Hände sortierten fahrig die Papiere, »müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie es mit Ihnen weitergehen soll. Ihr Onkel«, er nickte Wilhelm Vandenberg kurz zu, »ist aus Amsterdam gekommen, um Entscheidungen für Sie zu treffen. Er ist als Ihr nächster Verwandter nun auch Ihr Vormund.«
    Julie blickte von einem zum anderen. Sie verstand nicht. Vormund?
    Was der Begriff »Vormund« bedeutete, erfuhr Julie dann schneller, als ihr lieb war. Bereits wenige Tage später befand sie sich auf dem Weg in ein Internat.
    Sie saß neben ihrem Onkel in der Kutsche und starrte aus dem Fenster. Sie fuhr nicht mehr gerne Kutsche, und dies war im Übrigen auch keine Vergnügungsreise.
    Die Eindrücke des Abschieds lasteten schwer auf ihr. Sie dachte an Marit, die vor dem Haus gestanden und mit verkniffener Miene versucht hatte, ihre Traurigkeit zu verbergen – und ihr am Ende noch ein paar aufmunternde Worte zugeflüstert hatte. Julie konnte sich eine Zeit ohne Marit gar nicht vorstellen. Marit war immer für sie da gewesen. Und Julie hatte sich glücklich geschätzt, eine so liebevolle Kinderfrau zu haben. Sie kannte die Kinderfrauen anderer Familien, das waren manchmal ziemliche Drachen. Marit hingegen schimpfte nie laut, nicht einmal damals, als Julie sich das neue Kleidchen zerrissen hatte. Sie erzählte ihr vor dem Einschlafen Geschichten und flocht ihr immer schöne Zöpfe, was selbst ihre Mutter nie geschafft hatte. Wer würde Julie jetzt beim Anziehen helfen? Wer würde ihr die Haare machen? Sie konnte das alles doch nicht allein! Und was würde jetzt aus Marit werden?
    Der Abschied war viel zu schnell gegangen. Onkel Wilhelm hatte sie ungeduldig zum Aufbruch gedrängt und sie schließlich unsanft in die Kutsche geschoben. Ihr war gerade noch ein letzter Blick auf ihr Elternhaus geblieben. Alles hatte so still und friedlich dagelegen. Sollte sie es jemals wiedersehen?
    Nun fuhren sie schon seit Stunden in nördliche Richtung, vorbei an abgeernteten Feldern und kahlen Bäumen. Windige Böen trieben dunkle Wolken am Himmel vor sich her. Sie kamen durch kleine Dörfer, die bereits für den hereinbrechenden Winter gerüstet wurden, und fuhren durch Wälder, in denen das trockene Laub auf den Straßen im Wind tanzte. Julie fröstelte und zog den dicken Mantel enger um ihren Körper. Sie vergrub die Nase hinter dem hohen Kragen. Der Stoff roch nach ihrem Zuhause, nach Bohnerwachs und Mottenkugeln, und Julie meinte, auch einen Hauch des Parfüms ihrer Mutter wahrzunehmen. Als sie nach dem Unfall hatte aufstehen dürfen, war sie heimlich durch das Haus geschlichen auf der Suche nach etwas, was ihr ihre Eltern wieder näherbrachte. An einem Kissen, einem Taschentuch, sogar am Aschenbecher im Salon, wo Papa abends immer seine Zigarre geraucht hatte, hatte sie geschnüffelt. Aber die kurzfristigen, wohligen Gedanken und Gefühle waren rasch einem stechenden Schmerz und einer großen Leere gewichen. Die Erinnerungen waren untrennbar mit ihrem Elternhaus verbunden – und dieses entfernte sich gerade Meile für Meile, Huftritt für Huftritt weiter von ihr. Sie schienen immer mehr zu verblassen und an Klarheit zu verlieren.
    Julie fühlte sich nicht wohl in der Gesellschaft von Onkel Wilhelm. Seit seiner Ankunft hatte er ihr nur ein paar knappe Anweisungen zu den Reisevorbereitungen gegeben und sich ansonsten nicht weiter um Julie gekümmert. Weitaus mehr hatte er sich für das Inventar ihres Elternhauses interessiert und jedes Möbelstück gründlich beäugt, während Herr Lammers unablässig in langen Listen geblättert hatte und dienstbeflissen neben ihm hergegangen war. Marit hatte Julie an jenem schicksalsträchtigen Tag schließlich energisch aus dem Raum geführt mit dem Hinweis, die Herren hätten noch wichtige
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