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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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gegenwärtige Tag sei ein bloßes Trugbild, nicht wirklicher oder unwirklicher als die Erinnerungen an all die anderen Tage, die man in sich herumträgt.
    Ich verstehe, warum die Leute dieses Spiel betreiben, doch ich selbst finde keinen Gefallen daran. Ich lehne es ab, die Geistersprache zu sprechen, und wann immer ich andere so reden höre, entferne ich mich oder halte mir die Ohren zu. Ja, ich habe mich verändert. Du weißt noch, was für ein verspieltes kleines Mädchen ich war. Du konntest nie genug von meinen Geschichten hören und von den Welten, die ich uns erfunden habe, damit wir darin spielen konnten. Das Schloss ohne Wiederkehr, das Traurige Land, der Wald der vergessenen Worte. Erinnerst du dich? Mit welchem Vergnügen ich dir Lügen auftischte, dich dazu verleitete, an meine Geschichten zu glauben, und dein Gesicht ganz ernst werden sah, wenn ich dich von einer fremdartigen Szene zur anderen führte. Und wenn ich dir dann sagte, das sei alles nur erfunden, fingst du an zu weinen. Ich glaube, ich mochte deine Tränen genauso sehr wie dein Lächeln. Ja, ich war wohl damals schon ein wenig frech, in den Kleidchen, die meine Mutter mir anzog, mit meinen zerschundenen und verschorften Knien und meiner kleinen unbehaarten Kindermöse. Aber du hast mich geliebt, oder? Du hast mich geliebt bis zum Wahnsinn.
    Jetzt bestehe ich nur noch aus Wirklichkeitssinn und kalter Berechnung. Ich will nicht sein wie die anderen. Ich sehe, was ihre Phantastereien aus ihnen machen, und das soll mir nicht widerfahren. Die Geisterleute sterben allesamt im Schlaf. Ein oder zwei Monate lang laufen sie mit einem seltsamen Lächeln durch die Gegend, umgeben von einem unheimlichen jenseitigen Glühen, als hätten sie schon begonnen sich aufzulösen. Die Anzeichen, selbst die allerersten Vorboten, sind unverkennbar: die leichte Rötung der Wangen, die plötzlich etwas geweiteten Augen, der schleppende Gang, der üble Geruch des Unterleibs. Vermutlich ist es aber ein glücklicher Tod. Das will ich ihnen zugestehen. Manchmal habe ich sie fast darum beneidet. Aber ich kann doch nicht aus meiner Haut. Ich will das nicht zulassen. Ich werde so lange durchhalten, wie ich kann, und wenn es mich umbringen sollte.

Andere Todesarten sind dramatischer. Da gibt es zum Beispiel die Renner, eine Sekte, deren Mitglieder so schnell sie können durch die Straßen rasen und dabei wie wild um sich schlagen, in die Luft boxen und lauthals schreien. Meistens ziehen sie in Gruppen umher: Zu sechst, zu zehnt oder gar zu zwanzig kommen sie die Straße entlanggestürmt, ohne ihren Lauf je zu unterbrechen; sie rennen und rennen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrechen. Es geht darum, so schnell wie möglich zu sterben, sich so abzuhetzen, dass das Herz nicht mehr mitmacht. Die Renner meinen, kein Mensch habe den Mut, dies allein zu tun. Beim gemeinsamen Laufen wird jedes Mitglied der Gruppe von den anderen mitgerissen, von den Schreien angespornt, von der selbstquälerischen Verbissenheit zur Raserei getrieben. Und darin liegt die Ironie. Um sich durch Laufen umzubringen, muss man sich erst einmal eine gute Kondition antrainieren. Denn sonst verfügte man nicht über die nötige Kraft, um über sich hinauszuwachsen. Die Renner unterziehen sich freilich mühseligen Vorbereitungen, um ihr Schicksal zu besiegeln, und sollten sie auf dem Weg dorthin zufällig einmal stolpern, wissen sie sich sofort aufzuraffen und weiterzumachen. Es handelt sich dabei wohl um eine Art Religion. Im ganzen Stadtbereich gibt es mehrere Büros – eines für jede der neun Zensuszonen –, und wer mitmachen will, hat eine Reihe komplizierter Aufnahmeprüfungen abzulegen: unter Wasser die Luft anhalten, Fasten, die Hand in eine Kerzenflamme halten, sieben Tage lang mit niemandem sprechen. Ist man dann aufgenommen, muss man sich dem Kodex der Gruppe unterwerfen. Dieser sieht unter anderem sechs bis zwölf Monate gemeinsamen Lebens vor, ferner ein streng reglementiertes Körpertraining und eine allmähliche Reduzierung der Nahrungsaufnahme. Ist ein Mitglied schließlich so weit, dass es seinen Todeslauf antreten kann, befindet es sich in einem simultanen Zustand äußerster Kraft und äußerster Schwäche. Theoretisch kann man unausgesetzt weiterlaufen, zugleich aber hat der Körper sämtliche Reserven aufgebraucht. Diese Kombination führt zu dem erwünschten Ergebnis. Am Morgen des festgelegten Tages bricht man mit seinen Begleitern auf und läuft, bis man seinem Körper entflohen
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