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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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Vase
gefüllt haben, liebevoll von Frau Gustloff arrangiert zur
Begrüßung ihres Mannes nach anstrengender Reise, zudem als
später Geburtstagsgruß.
    Auf dem Schreibtisch Kleinkram und viel lässig
geordnetes Papier: vielleicht Ortsgruppenberichte aus den Kantonen,
sicher Korrespondenz mit Dienststellen im Reich, wahrscheinlich einige
Drohbriefe, die in jüngster Zeit häufig mit der Post gekommen
waren; doch Gustloff hatte Polizeischutz abgelehnt.
    Er betrat das Arbeitszimmer ohne seine Frau. Stramm
und gesund, weil seit Jahren jenseits seiner Tuberkulose, ging er zivil
gekleidet auf den Besucher zu, der sich nicht aus dem Sessel erhob,
sondern sitzend schoß, kaum hatte er den Revolver aus der Tasche
des Wintermantels gezogen. Gezielte Schüsse machten in der Brust,
im Hals, im Kopf des Landesgruppenleiters vier Löcher. Der brach
vor den gerahmten Bildern seines Führers ohne Schrei zusammen.
Gleich darauf stand seine Frau im Zimmer, sah zuerst den noch in
Schußrichtung gehaltenen Revolver, dann ihren gestürzten
Mann, der, während sie sich über ihn beugte, aus allen
Wundlöchern zu verbluten begann.
    David Frankfurter, der Reisende ohne
Rückfahrkarte, setzte den Hut auf und verließ, ohne von den
aufgestörten Mitbewohnern des Hauses gehindert zu werden, den Ort
seiner vorbedachten Tat, irrte einige Zeit im Schnee umher, fiel dabei
mehrmals, hatte die Notrufnummer im Kopf, bezichtigte sich in einer
Telefonzelle als Täter, fand schließlich das
nächstgelegene Wachlokal und stellte sich der kantonalen Polizei.
    Den folgenden Satz hat er zuerst dem wachhabenden
Beamten zu Protokoll gegeben und später vor Gericht wiederholt,
ohne ihn zu variieren: »Ich habe geschossen, weil ich Jude bin.
Ich bin mir meiner Tat vollkommen bewußt und bereue sie auf
keinen Fall.«
    Danach wurde eine Menge Papier bedruckt. Was bei
Wolfgang Diewerge »eine feige Mordtat« hieß, geriet
dem Romanautor Emil Ludwig zum »Kampf Davids gegen Goliath«.
Bei dieser gegensätzlichen Bewertung ist es bis in die digital
vernetzte Gegenwart geblieben. Schon bald ließ alles, was danach,
den Prozeß eingeschlossen, geschah, den Täter und das Opfer
hinter sich und gewann Bedeutung. Dem Helden von biblischem Zuschnitt,
der mit schlicht begründeter Tat sein gepeinigtes Volk zum
Widerstand aufrufen wollte, stand der Blutzeuge der
nationalsozialistischen Bewegung gegenüber. Beide sollten
überlebensgroß ins Buch der Geschichte eingehen. Der
Täter jedoch geriet bald in Vergessenheit; auch Mutter hat, als
sie ein Kind war und Tulla gerufen wurde, nie etwas von einem Mord und
dem Mörder, nur Märchenhaftes von einem Schiff gehört,
das weiß schimmerte und beladen mit fröhlichen Menschen
lange und kurze Seereisen für einen Verein machte, der sich
»Kraft durch Freude« nannte.
2
    Als ich noch ein alimentierter Bummelstudent war,
habe ich an der TU Professor Höllerer gehört. Mit dringlicher
Vogelstimme begeisterte er den übervollen Hörsaal. Es ging um
Kleist, Grabbe, Büchner, lauter Genies auf der Flucht.
»Zwischen Klassik und Moderne« hieß eine seiner
Vorlesungen. Ich gefiel mir zwischen jungen Literaten und noch
jüngeren Buchhändlerinnen im Waitzkeller, wo Unfertiges
vorgelesen und zerredet wurde. In der Carmerstraße habe ich sogar
an einem Kurs nach amerikanischem Muster - creative writing -
teilgenommen. Ein gutes Dutzend Hoffnungsträger, Talente waren
darunter. Bei mir soll es nicht gelangt haben, versicherte einer der
Dozenten, der uns Anfänger mit Themen wie
»Telefonseelsorge« zum epischen Entwurf herausfordern
wollte. Bei mir reiche es allenfalls zum Kolportageroman. Nun aber hat
er mich doch aus der Versenkung geholt: das Herkommen meiner
verkorksten Existenz sei ein einmaliges Ereignis, exemplarisch und
deshalb erzählenswert.
    Einige Talente von damals sind bereits tot. Zwei,
drei haben sich einen Namen gemacht. Mein einstiger Dozent scheint sich
hingegen leergeschrieben zu haben, sonst hätte er mich nicht als
Ghostwriter in Dienst gestellt. Ich will aber nicht weiter im Krebsgang.
    Es stocke, sagte ich ihm, lohne den Aufwand nicht.
Das waren doch nur zwei Spinner, der eine wie der andere. Von wegen, er
hat sich geopfert, um seinem Volk ein Beispiel für heldenhaften
Widerstand zu liefern. Ging den Juden nach dem Mord kein Stück
besser. Im Gegenteil! Der Terror war Gesetz. Und als zweieinhalb Jahre
später der Jude Herschel Grünspan in Paris den Diplomaten
Ernst vom Rath erschoß, gab es als Antwort
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