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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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die
Reichskristallnacht. Und was hat den Nazis, frage ich mich, ein
Blutzeuge mehr eingebracht? Na schön, ein Schiff wurde auf seinen
Namen getauft.
    Und schon bin ich wieder auf Spur. Nicht etwa, weil
mir der Alte im Nacken sitzt, eher weil Mutter niemals lockergelassen
hat. Schon in Schwerin, wo ich, wenn irgendwas eingeweiht wurde, mit
Halstuch und im Blauhemd rumhampeln mußte, hat sie mich
gelöchert: »Wie aisig die See jewesen is und wie die
Kinderchen alle koppunter. Das mußte aufschraiben. Biste ons
schuldig als glicklich Ieberlebender. Werd ech dir aines Tages
erzählen, klitzeklain, ond denn schreibste auf...«
    Aber ich wollte nicht. Mochte doch keiner was davon
hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht. Die
Gustloff und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntelang tabu,
gesamtdeutsch sozusagen. Mutter hörte trotzdem nicht auf, mir per
Kurierpost in den Ohren zu liegen. Als ich das Studium geschmissen
hatte und ziemlich rechtslastig für Springer zu schreiben begann,
bekam ich zu lesen: »Der ist ein Revanchist. Der setzt sich
für uns Vertriebene ein. Der druckt das bestimmt in Fortsetzungen,
wochenlang...«
    Und später, als mir die »taz« und
sonstige linke Kopfstände auf den Nerv gingen, hat mir Tante
Jenny, sobald sie mich bei Habel am Roseneck zu Spargel und frischen
Kartoffeln am Tisch hatte, Mutters Ermahnungen zum Dessert geliefert:
»Meine liebe Freundin Tulla setzt immer noch große
Erwartungen in dich. Sie läßt dir sagen, daß es deine
Sohnespflicht bleibt, endlich aller Welt zu berichten...«
    Doch ich hielt weiterhin unter Verschluß.
Ließ mich nicht nötigen. All die Jahre lang, in denen ich
freiberuflich längere Artikel für Naturzeitschriften, etwa
über den biodynamischen Gemüseanbau und Umweltschäden im
deutschen Wald, auch Bekenntnishaftes zum Thema »Nie wieder
Auschwitz« geliefert habe, gelang es mir, die Umstände
meiner Geburt auszusparen, bis ich Ende Januar sechsundneunzig zuerst
die rechtsradikale StormfrontHomepage angeklickt hatte, bald auf einige
Gustloff Bezüglichkeiten stieß und dann auf der Website
»www.blutzeuge.de« mit der Kameradschaft Schwerin vertraut
wurde.
    Machte erste Notizen. Staunte. War verblüfft.
Wollte wissen, wieso diese Provinzgröße - und zwar von den
vier Schüssen in Davos an - imstande war, neuerdings Surfer
anzulocken. Dabei geschickt aufgemacht die Homepage. Montierte Fotos
Schweriner Lokalitäten. Dazwischen nette Fragesätze:
»Wollt Ihr mehr über unseren Blutzeugen wissen?
    Sollen wir Euch seine Story Stück für Stück liefern?«
Von wegen wir! Von wegen Kameradschaft! Hätte wetten mögen,
daß da jemand solo im Internet schwamm. Dieser kackbraun
aufgehenden Saat diente einunddasselbe Köpfchen als Mistbeet. Sah
hübsch aus und war gar nicht mal dumm, was dieser Heini über
»Kraft durch Freude« ins Netz stellte. Urlauberfotos von
lachenden Schiffsreisenden.
Badefreuden an den Stränden der Insel Rügen.
Davon wußte Mutter natürlich wenig. Bei ihr hieß
»Kraft durch Freude« immer nur »Kaadeäff«.
In den Langfuhrer Kunstlichtspielen hatte sie als Zehnjährige in
»Fox tönende Wochenschau« dies und das, aber auch
»onser Kaadeäffschiff« anläßlich der
Jungfernfahrt gesehen. Außerdem sind Vater und Mutter Pokriefke,
er als Arbeiter und Parteigenosse, sie als Mitglied der
NS-Frauenschaft, im Sommer neununddreißig an Bord der Gustloff
gewesen. Eine kleine Gruppe aus Danzig - damals noch Freistaat - durfte
mit Sondergenehmigung für Auslandsdeutsche reisen, sozusagen auf
den letzten Drücker. Ziel waren Mitte August die Fjorde Norwegens,
zu spät für die Zugabe Mitternachtssonne.
Als ich ein Kind war, hat mir Mutter, sobald der ewigwährende
Untergang wieder mal Sonntagsthema war, mit Hingabe auf Langfuhrsch
versichert, wie begeistert ihr Papa von einer norwegischen
Trachtengruppe und deren Volkstänzen, dargeboten auf dem
Sonnendeck des KdF-Schiffes, erzählt hat. »Ond maine Mama
hädd nech aufheeren jekonnt, von dem ieberall mit bunte Bilder
jekachtelten Schwimmbad zu schwärmen, in dem später all die
Helferinnen vonne Marine janz dichtjedrängt ham hocken
jemußt, bis denn der Russki mit sainem zwaiten Torpedo jenau da
all die jungen Dinger zermanscht hat...«
Doch noch ist die Gustloff nicht auf Kiel gelegt, geschweige denn vom Stapel gelaufen.
Außerdem muß ich zurückstecken, weil gleich nach den
tödlichen Schüssen die im Kanton Graubünden
zuständigen Richter, der Ankläger und die
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