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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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Verteidiger den
Prozeß gegen David Frankfurter vorzubereiten begannen. Das
Verfahren sollte in Chur ausgetragen werden. Da der Täter
geständig war, konnte mit einem kurzen Prozeß gerechnet
werden.
In Schwerin aber fing man an, Feierlichkeiten zu organisieren, die von
ganz oben angeordnet waren, gleich nach der Überführung der
Leiche über die Bühne gehen und im Gedächtnis der
Volksgemeinschaft haften bleiben sollten.
    Was alles durch gezielte Schüsse auf die Beine
gebracht wurde: marschierende SAKolonnen, Ehrenspaliere, Kranz- und
Fahnenträger, Uniformierte mit Fackeln. Bei dumpfem Trommelwirbel
zog Wehrmacht im Trauerschritt vorbei, stand Schwerins in Trauer
erstarrtes oder aus bloßer Schaulust drängendes Volk.
    Zuvor war der in Mecklenburg eher unbekannte
Parteigenosse nur einer von vielen Landesgruppenleitern der
NSDAP-Auslandsorganisation gewesen; der tote Wilhelm Gustloff jedoch
wurde zu einer Figur aufgepumpt, die einige Tribünenredner hilflos
zu machen schien, denn bei der Suche nach vergleichbarer
Größe fiel ihnen immer nur jener Oberblutzeuge ein, der
einem Lied zum Namen verholfen hatte, das bei offiziellen Anlässen
- es fanden sich viele
- gleich nach dem Deutschlandlied gespielt und gesungen wurde: »Die Fahne hoch...«
    In Davos waren die Feierlichkeiten noch im
Kleinformat abgelaufen. Die Kirche der evangelischen Kurgemeinde,
eigentlich eine Kapelle, gab das Maß an. Vorm Altar, bekleidet
mit der Hakenkreuzfahne, stand der Sarg. Drauf lagen der Ehrendolch,
die Armbinde und die SA-Mütze des Toten zum Stilleben geordnet.
Etwa zweihundert Parteigenossen
    waren aus allen Kantonen gekommen. Zudem gaben
Schweizer Bürger vor und in der Kapelle ihrer Gesinnung Ausdruck.
Ringsum die Berge.
Die eher schlichte Trauerfeier in dem weltbekannten Lungenkurort ist
vom Deutschen Rundfunk in Ausschnitten übertragen worden,
angeschlossen waren alle Sender im Reichsgebiet. Sprecher forderten
dazu auf, den Atem anzuhalten. Doch in keinem Kommentar und in keiner
der vielen Reden, die später anderenorts gehalten wurden, fand
David Frankfurter namentlich Erwähnung. Er hieß fortan und
nur »der jüdische Meuchelmörder«.
Versuche der Gegenseite, den kränkelnden Medizinstudenten zum
Helden aufzupäppeln, indem man ihn, seiner serbischen Herkunft
wegen, als »jugoslawischen Wilhelm Tell« aufs Podest
stellte, sind von Schweizer Patrioten in empörtem
Bühnendeutsch zurückgewiesen worden, haben aber die Frage
nach den Hintermännern des schießenden jungen Mannes
verstärkt; bald wurden jüdische Organisationen als
Drahtzieher genannt. Auftraggeber »der feigen Mordtat« sei
das organisierte Weltjudentum gewesen.
Unterdessen stand in Davos der Sonderzug für den Sarg bereit. Bei
der Abfahrt wurden Kirchenglocken geläutet. Von Sonntag vormittag
bis Montag abend war er unterwegs, hielt in Singen erstmals auf
reichsdeutschem Gebiet, berührte zwecks feierlichen
Kurzaufenthaltes die Städte Stuttgart, Würzburg, Erfurt,
Halle, Magdeburg und Wittenberge, wo auf den Bahnsteigen von jeweils
zuständigen Gauleitern sowie von Ehrenabordnungen der Partei der
Leiche im Sarg der letzte Gruß »entboten« wurde.
Dieses Wort aus der Sinn- und Klangfibel der Erhabenheit entdeckte ich im Internet.
Auf der Website wurde im Wortlaut der eingespeisten Berichte nicht
einfach nur auf die damals herkömmliche und den italienischen
Faschisten abgeguckte Weise mit erhobener rechter Hand
gegrüßt, vielmehr fand man sich auf Bahnsteigen und bei
allen Trauerkundgebungen zum »Entbieten« des letzten
Grußes ein; deshalb wurde unter »www.blutzeuge.de«
nicht nur mit Zitaten der Führerrede und Schilderungen der
Trauerfeier in Schwerins Festhalle des Toten gedacht, sondern ihm auch
aus der neuesten, Cyberspace genannten Dimension der deutsche
Gruß »entboten«. Erst danach war der Kameradschaft
Schwerin Beethovens »Eroica«, intoniert vom örtlichen
Orchester, erwähnenswert.
Immerhin fiel inmitten des weltweit verbreiteten Schwachsinns ein
kritischer Nebenton auf. Ein Chatter korrigierte den im zitierten
»Völkischen Beobachter« berichteten Ehrensalut einer
Wehrmachtsabteilung für den Frontsoldaten Wilhelm Gustloff mit dem
Hinweis, der so Geehrte habe seiner Lungenkrankheit wegen nicht am
Ersten Weltkrieg teilnehmen, sich nicht tapfer an der Front
bewähren, kein Eisernes Kreuz erster oder zweiter Klasse tragen
dürfen.
Schien ein Übergenauer zu sein, der als Einzelkämpfer die
virtuellen Feierlichkeiten störte. Außerdem
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